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Friesengold (German Edition)

Friesengold (German Edition)

Titel: Friesengold (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Flessner
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profitiert. Greven war gespannt, ob und wie Grönmann bedacht worden war. Aber noch fehlte die Kopie des Testaments vom Gericht.
    Während Häring immer mehr zu einer Kugel mutierte und seine Zähne einen gleichmäßigen Rhythmus suchten, nahm der Schneefall zu. Also doch ein falscher Satellit, dachte Greven und zog einen großen Feldstecher aus einem Etui. Noch war das Haus halbwegs zu erkennen, noch zeichneten sich die Vordertür und die Sprossenfenster ab. Mehr Schneeflocken durften aber nicht mehr hinzukommen. Die Landschaft vor ihnen verschwamm allmählich zu einer gespenstisch anmutenden Szene, zu einem surrealen Bild. Das als Wirklichkeit bekannte Phänomen löste sich nach und nach in pointillistische Farbtupfer auf, die, aus nächster Nähe betrachtet, kein erkennbares Motiv mehr ergaben. Die Welt verschwand vor ihren Augen hinter einer Milchglasscheibe, durch die sie nur noch ab und zu schemenhaft Strukturen erkennen konnten, die sie mal als Haus, mal als das Gehölz neben dem Haus interpretierten.
    Greven war schon im Begriff, die Aktion abzubrechen, als das Haus wie hingezaubert wieder vor ihnen auftauchte. Sofort zog er seinen Daumen vom Sprechfunkgerät zurück, denn sie hatten Funkstille vereinbart, um den Täter nicht zu warnen. Hätte Greven sich gemeldet und hätten seine im Weiß verteilten Kollegen geantwortet, wäre die Aktion tatsächlich beendet gewesen. Stattdessen riskierte er einen neuen Blick durch den Feldstecher, den er gleich wieder absetzte, dann aber erneut vor seine Augen riss. Etwas hatte sich verändert. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sein Gehirn etwas registriert, aber versäumt, es auch seinem Bewusstsein zu übermitteln. Die Fenster? Die Tür? Der Weg? Der Zaun? Greven kniff die Augen zusammen und lotete mit dem Feldstecher den Schnee aus, der mit ihm zu spielen schien. Wahrscheinlich hatte er sich geirrt.
    »Ist dir etwas aufgefallen?«
    »Nein«, klapperten Härings Zähne. Auf seiner Mütze hatte der Schnee mittlerweile eine zweite kleine Mütze aufgehäuft.
    Da auf das Auge kaum noch Verlass war, konzentrierte sich Greven auf sein Gehör. Hinter der Milchglasscheibe war es still. Außergewöhnlich still. Die Straße lag etwas außerhalb von Aurich, und das Wetter hielt viele vom Fahren ab. Aber das war es nicht. Greven setzte noch einmal den Feldstecher an, der dem Schnee aber nur wenig anhaben konnte. Nichts war zu sehen. Außer der Stille. Chingachgook kam ihm in den Sinn. Auch der Indianer hatte die Stille sehen können. Allerdings auch, was sich dahinter verbarg. Zwischen ihm und Chingachgook lagen also Welten.
    »Siehst du denn etwas?«
    »Nur die Stille«, antwortete Greven.
    »Die Stille kann man nicht sehen.«
    »Chingachgook schon.«
    »Wer?«, klapperte Häring.
    »James Fenimore Cooper. Nie gelesen?«
    »Tut mir leid.«
    »Du warst eben in einer anderen Zeit jung. Und jetzt sieh dir bitte die Stille genau an.«
    Ihr Schweigen dauerte nur Sekunden.
    »Du hast recht«, sagte Häring langsam und ohne zu klappern. »Hier stimmt etwas nicht. Das hast du doch gemeint, oder.«
    »Genau das.«
    Beide standen auf, verließen vorsichtig ihre Deckung und starrten unschlüssig ins Weiß.
    Wieder wurde von unbekannter Hand die Welt an ihren Platz gezaubert, wenn auch nicht vollständig. Aber sichtbar genug, um zu erkennen, dass die Vordertür nicht mehr geschlossen, sondern einen Spaltbreit geöffnet war.
    Sie kamen nicht einmal dazu, sich mit ihren Blicken die Entdeckung gegenseitig zu bestätigen, als die Stille durch ein vertrautes, aber merkwürdig dumpfes und fast verzerrt klingendes Geräusch beendet wurde. Der Schuss hätte aus einem alten Western stammen können und ähnelte dem lang gezogenen Knall einer Peitsche. Der Schnee beeinflusste nicht nur die elektromagnetischen Wellen des Lichts, sondern auch den Schall.
    Zeit zum Reagieren blieb ihnen nicht, denn dem Schuss folgten weitere. Keine drei Meter vor ihnen fiel der Schnee plötzlich punktuell und abrupt nach oben, so dass sie sich fallen ließen. Häring zog und entsicherte seine Waffe. Greven zückte das kleine handliche Sprechfunkgerät.
    »Hier Greven. Kann mir einer sagen, was da los ist?«
    Noch einmal peitschte ein Schuss durch die Flocken, dann kehrte die Stille zurück.
    »Hier ist Ackermann. Der Unbekannte hat einen Schuss abgegeben, den wir erwidert haben. So wie es aussieht, konnte er fliehen. Harding hat einen Streifschuss abbekommen.«
    »Feuer einstellen!«, sagte Greven. »Sofort das Feuer

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