Friesenherz
Fantasie. Wahrscheinlich lag es an die ser Hand, einem Prachtexemplar von Hand, breit und kräftig und sommersprossig, die Art von Hand, die einfach toll aussah an einer Bohrmaschine, einer Angel, einer Axt. Naturburschenerotik in Reinform.
»Kinder.« Lisi Schleibinger blickte fröhlich in die Runde. »Des is der Jan, der wird euch in den nächsten Tagen durchs Watt begleiten. Ein wahrer Experte für Ebbe und Flut.« Jan tippte mit zwei Fingern an seine Mütze und grüßte lässig in die Runde.
»Sie?«
Ich fuhr herum. Die Kellnerin mit der Weinflasche hatte ich längst vergessen.
»Ob Sie einen Schluck haben möchten?«
»Ja«, sagte ich. »Unbedingt.«
6
Irgendwann zwischen der zweiten Portion Bohnensuppe und dem dritten Glas Wein beschloss ich, noch einen Abendspaziergang zu machen. Wenn sich das mit dem Zimmer für mich allein schon erledigt hatte, dann wollte ich wenigstens mein Solisten-Dasein auf Zeit noch ein wenig genießen. Ich gab an der Rezeption meinen Schlüssel ab und nickte dem blonden Mädchen zu. Danach nickte ich den Holzmöwen in der Ecke zu, die so aussahen wie die auf meiner Fensterbank. Offensichtlich alle aus der gleichen Familie. Auf solchen kleinen Inseln waren ja immer alle miteinander verwandt, warum nicht auch die Holztiere?
Draußen war es windig. Als ich die Treppe zum Deich hochstieg, war mein Gesicht in Sekundenschnelle mit feinen Tröpfchen bedeckt, als hätte jemand eine Dusche mit winzigen Düsen auf mich gerichtet. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ja. So mochte ich Wellness. Der Himmel war eine einzige schwarze Suppe, die am Horizont in das Meer überging. Die Wellen waren kaum zu sehen, dafür umso deutlicher zu hören, wie sie mit Wucht in Richtung Strand rollten. Noch vor ein paar Stunden war dort nichts gewesen als eine glatte, glitzernde Wattfläche. Ich zog meine Windjacke zu und wanderte in Richtung Westen, dorthin, wo ich heute Nachmittag am Strand gesessen und Krabbenbrötchen gegessen hatte.
Nach einer Weile kam ich an einer Bank vorbei, ließ mich nieder und kramte in meiner Jackentasche nach meinem Handy. Es war ungewohnt für mich, es dabeizuhaben, meistens lag es zu Hause auf dem Garderobenschränkchen, war ausgeschaltet und langweilte sich. Aber hier, so weit weg von Mann und Tochter, wollte ich doch gern erreichbar sein. Außerdem konnte es nicht schaden zu wissen, was Ronja trieb. Nicht, dass sie auf die Idee kam, eine Party für dreißig Leute zu schmeißen, bloß weil ich nicht da war. Die Tochter unserer Nachbarn hatte letztes Jahr so etwas gemacht, als ihre Eltern ohne sie auf einer Kreuzfahrt unterwegs gewesen waren. Danach hatten sie den Rasen neu ansäen müssen. Und das war noch das kleinste Problem gewesen.
»Johannsen?«, meldete sich meine Tochter nach dem dritten Klingeln, und ich war verdattert. Sie klang so erwachsen, so weit weg. Und dann noch diese Art der Begrüßung. Bis letztes Jahr hatte sie noch aufgeregt »Hallo, hier ist die Ronni!« in den Hörer gerufen.
»Ich bin’s«, sagte ich.
Einen Moment lang war es still. »Ach, du«, sagte sie dann. Es klang nicht gerade so, als hätte sie meinen Anruf sehnsüchtig erwartet.
»Hör mal!«, sagte ich. »Ganz schön steife Brise …« Dann hielt ich mein Handy für einen Augenblick in den Wind. Als ich es wieder ans Ohr hielt, hörte ich Ronja atmen.
»Du, Mama, wenn ich dich gerade dranhabe …«, begann sie, und ich wappnete mich innerlich. Wenn sie einen Satz so begann, mit dem Wort Mama darin, dann war das, was danach kam, ga rantiert sehr teuer. Oder sehr kompliziert. Oder einfach nicht altersgemäß.
»Na, was hast du dir jetzt wieder ausgedacht?«, fragte ich.
»Mama!«, sagte sie vorwurfsvoll. »Also echt, gar nichts. Ich wollte nur erzählen, dass ich in ein paar Tagen zu so einem Cosplay-Treffen fahren kann, nach Harburg.«
»Erzählen«, wiederholte ich. »Neuerdings werde ich also nicht mehr gefragt, wenn du etwas vorhast. Du teilst es mir nur noch mit.«
Meine eigene Stimme hallte in meinem Kopf wider wie ein Echo aus der Vergangenheit. Genauso hatte es meine eigene Mutter auch immer formuliert. Obwohl ich ihr nie mit solchem Un sinn gekommen war wie japanischen Kostümpartys, bei denen die Teilnehmerinnen einen fragwürdig sexuell angehauchten Schulmädchen-Look trugen und sich alle Mühe gaben, wie Figuren aus einem Comicheft auszusehen.
»Hey, das fängt doch schon um drei an«, gab sie zurück, »und die Party ist auch um zwölf Uhr abends
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