Friesenherz
als hätte mich die gescheiterte Flucht von der Insel alle Energie gekostet. Widerspruchslos nippte ich an der seltsamen Brühe. Dabei sah ich zu Ann hinüber. Sie nippte ebenso wortlos, zaghaft, als müsste sie erst einmal testen, ob ihr Magen überhaupt etwas bei sich behielt. Hatte ich ihr unrecht getan? Mir war die Bohnensuppe gestern Abend gut bekommen, auch wenn ich nicht ganz satt geworden war. Aber möglicherweise war Ann empfindlicher.
»Ach so«, sagte die Kellnerin und reichte mir ein Blatt Papier, das auf dem Tablett gelegen hatte, »das hätte ich fast vergessen. Fax für Sie.«
Ich begann zu lesen. Ich las einmal. Las es noch mal. Als ich gerade zum dritten Lesen ansetzen wollte, fiel ein Schatten über die Tischdecke.
»Maike! Hast du wohl noch zwei Plätzchen für uns?«
Hektisch faltete ich das Fax zusammen. Das ging niemanden etwas an.
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Geli mit einem scheußlichen Geräusch den freien Stuhl zurück und winkte ihrem Mann. Er schlurfte heran, eine Schüssel in der Hand, und blickte dabei drein, als enthielte sie das Gewicht des ganzen Universums.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte er seufzend, setzte sich und hieb seinen Löffel in eine graubraune Körnermischung. Stumm löffelte er. Es sah nach schwerer körperlicher Arbeit aus.
Ich wollte nicht unhöflich sein und überlegte, wie ich ein Gespräch anknüpfen könnte. »Was steht heute noch mal auf dem Programm?«, fragte ich schließlich.
»Na, die erste Wanderung!« Geli blickte mich verwundert an. »Mit diesem netten jungen Mann, der gestern Abend noch vorbeigeschaut hat.«
»Der will wirklich mit uns rausgehen?«, wunderte ich mich. »Bei dem Sturm?«
»Ach, das bisschen Wind pustet uns doch nicht um«, sagte Geli fröhlich.
»Ihr wisst schon, dass deshalb heute Morgen die Fähren nicht auslaufen konnten?«, fragte ich ärgerlich.
Hans-Gerd legte seiner Frau die Hand auf den Arm und zwinkerte mir verschwörerisch zu.
»Wissen Sie … ich meine, weißt du: Wir haben das Rundum-Sorglos-Paket gebucht.«
10
Nach dem Frühstück ging Ann noch einmal nach oben, um sich frisch zu machen. Die Schätze wichen mir nicht von der Seite und plauderten pausenlos. Aber ich konnte mich kaum auf das konzentrieren, was sie mir erzählten. Dazu waren die beiden Stimmen in meinem Kopf zu laut. Die eine klang wie die eines sechzehnjährigen Mädchens, und sie quietschte die ganze Zeit etwas, das sich anhörte wie: »Geil! Der Jan! Und gleich kommt der her, der Jan, o Mann, ist das geil!« Die andere erinnerte mich an meine Großmutter, sie war knarzig und streng. »Dass du dich nicht schämst«, knarzte sie, »wenn ich Wein und Bier durcheinandergetrunken und dann dem jungen Mann beinahe vor die Füße gefallen wäre, ich würde dafür sorgen, dass er mich nie wiedersieht.«
Ich beschloss, beide Stimmen zu ignorieren. Ich hatte ja sowieso keine Wahl, es war so gut wie unmöglich, Jan zu entkommen. Wo sollte ich auch hingehen, auf dieser winzigen Insel? Bis zum Nachmittag am Hafen herumsitzen, das war ja nun auch wieder nicht nötig. Dann konnte ich mir auch noch ein bisschen die Zeit vertreiben mit ihm und dem Rest der Gruppe.
Und außerdem, es war ja gar nichts passiert.
Oder wenn, dann nur in meinem Kopf oder anderen Körperregionen, über die ich jetzt nicht so genau nachdenken wollte.
Heute Abend würde ich wieder zu Hause sein, in meinem eigenen Bett, auf meiner angestammten Seite. Da, wo ich hingehörte.
Die Schätze und ich nahmen in der beigen Sitzgarnitur im Foyer Platz, wo schon Bärbel und Ahimsa saßen und sich anschwie gen. Das sah gerade nicht nach besonders gutem Karma aus. Hans- Gerd griff interessiert nach dem ausgelegten Prospekt mit den Piratenfahrten (Grillwurst, Bier und Seetierfang inklusive!), Geli Schatz zog ihre Trekkingjacke aus, um mir das qualitativ hochwertige Innenfutter zu zeigen, und weidete sich dann an einem Ratespielchen, was das gute Stück wohl gekostet haben mochte. Ich wollte ihr die Freude nicht verderben, schätzte 250 Euro und wunderte mich pflichtschuldig über den Super-Discountpreis, den sie mir schließlich nannte.
»Und für den Mucki haben wir auch gleich noch eine besorgt«, sagte sie, »weil nämlich, der Mucki, also unser Sohn, hat exakt die gleiche Schulterweite wie mein Mann, und das ist natürlich wahnsinnig praktisch.«
»Wahnsinnig«, pflichtete ich ihr bei. »Wie alt ist denn der Mucki?«
»Siebenunddreißig ist er geworden«, sagte Geli stolz, »und er
Weitere Kostenlose Bücher