Friesenherz
hat doch jetzt diese Stelle. Seit letztem Jahr ist der Mucki … ja, wie heißt es … also im Prodschekt Mänätschment, bei einem mittelständischen …«
»Ein Frankiermaschinenhersteller«, fiel Hans-Gerd ihr ins Wort, »also ein grundsolides Unternehmen, denn ehrlich, Internet hin oder her, Frankiermaschinen sind eine zeitlose Sache, die braucht jedes Unternehmen, jede, jede …« Er sah mich durchdringend an. »Wo arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?«
»Lehrerin«, gab ich zurück. »Mathematik und Biologie.«
»Natürlich auch jede Schule!« Hans-Gerd hieb mir triumphie rend seinen Zeigefinger gegen die Brust. »Oder wie wollen Sie sonst Ihre blauen Briefe verschicken, ohne Frankiermaschine?«
In dem Moment ging die Eingangstür auf, und Jan stand im Eingang. Mein Herz rutschte tiefer, dann noch tiefer. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte es aus dem Schaft meines knöchelhohen Nordic-Walking-Schuhs fischen können.
Er sah umwerfend aus, kein bisschen übernächtigt. Kunststück. Der hatte mit Sicherheit geschlafen wie ein Baby. Im gleichen Moment wurde mir schmerzlich bewusst, dass der gestrige Abend für ihn mit Sicherheit nichts Besonderes gewesen war. Wenigstens nicht so wie für mich. Sicherlich schlug er sich so manchen Abend mit Touristinnen um die Ohren. Und möglicherweise, das wurde mir in diesem Moment ebenso schmerzlich bewusst, auch so manche Nacht.
Ich atmete tief durch. Der sollte ruhig kommen.
Und das tat er dann auch.
»Hey.« Jan schlenderte geradewegs auf mich zu, beugte sich über mich. Dabei legte er seine Hände auf seine Oberschenkel, sodass ich jede Sehne, jede Pore und jeden Fingernagel genau erkennen konnte. Unter dem Daumennagel hatte er ein bisschen schwarzen Dreck. Seltsamerweise sah das bei ihm sogar sexy aus. Jan konnte einfach alles tragen.
»Da bist du ja wieder«, sagte er munter.
»Noch«, verbesserte ich ihn.
Er sah mich mit schräg gelegtem Kopf an. Sein Blick war prüfend. »Alles klar?«
Wie vertraulich wollte der denn noch werden, vor allen Leuten?
»Na klar ist alles klar! Was sollte nicht klar sein?«, stammelte ich.
»Cool«, sagte er und lächelte sein schönstes Lächeln. »Ich wollte nur wissen, ob der Abend dir gut bekommen ist.«
Alle Blicke ruhten jetzt auf Jan und mir. Bärbel hatte eine unverhohlene Neugier im Blick, sie sah aus wie Ronja, wenn eine Folge ihrer Lieblings-Daily-Soap lief. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre auf der Stelle aufgesprungen, hätte meinen Koffer geholt und mich so lange im strömenden Regen an den Hafen gesetzt, bis die erste Fähre ablegte.
Aber dann kam mir in letzter Sekunde ausgerechnet die Frau zu Hilfe, von der ich es am wenigsten erwartet hätte.
Ann betrat das Foyer mit schwingenden Hüften, beinahe, als stöckelte sie über einen Laufsteg. Ihre Gesichtsfarbe war wieder normal, ja, sie sah sogar ausgesprochen erholt aus, so als hätte sie die Wellnesswoche bereits hinter sich. Ihre Haare glänzten feucht, und sie trug gelbe Gummistiefel zu einem roten Wollminirock und dicken Leggings. Während sie sich in einen schäbigen Ohrensessel fallen ließ, fuhr sie mit der rechten Hand in die verfilzten Haarsträhnen, schlang sich eine um die Hand wie ein Stück Schnur und blickte schließlich Jan an. Dann seufzte sie theatralisch. »Morgens um neun, das ist echt nicht so meine Zeit. Tschuldigung.«
Jan hob die Augenbrauen und sah sie amüsiert an. »Da nich für«, antwortete er. »Aber bist du sicher, dass du so los willst?«
Ich jubelte innerlich. Mehr noch. Wäre ich katholisch gewesen, ich hätte dem Herrgott gedankt, freiwillig fünf Vaterunser gebetet und wäre dann auf rohen Erbsen einmal von Boldsum nach Rom und zurück gerutscht, aus purer Dankbarkeit. Ann hatte nicht nur die volle Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich gezogen und dafür gesorgt, dass Jan sich aus meiner Dreißig-Zentimeter-Intimzone zurückgezogen hatte, sie hatte mich auch in Sachen Peinlichkeit locker überrundet. Mit einem Minirock ins Watt! Gleich würde Jan sie aufs Zimmer zurückschicken, damit sie den Rock gegen eine vernünftige Hose tauschte. Geschah ihr recht.
Jan zeigte auf Anns Füße. Und dann auf unsere. »Die Stiefel. Es ist angenehmer, barfuß zu laufen. Auch wenn es draußen kalt ist. Im Schlick ist es immer noch warm. Schuhe mit Schnürsenkeln sind besser, die könnt ihr nachher leichter tragen.«
Ann schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Danke für den Tipp.«
Ich schüttelte stur den Kopf.
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