Friesenherz
demjenigen ins Genick, und platsch, ab in die nächste Pfütze.«
»Wieso einen Schatz im Watt?«, fragte Hans-Gerd. »Was gibt es denn hier zu finden?«
»Eine Menge«, sagte Jan. »Hier, wo wir stehen, war vor ein paar hundert Jahren noch Festland. Erst bei der großen Sturmflut im 17. Jahrhundert ist die Insel abgerissen. Und dort, wo heute Watt ist, waren früher Siedlungen. Immer wieder findet man Dinge im Schlick, Tonscherben, altes Kinderspielzeug, Nägel, Holzbretter …«
Ann nickte. »Nix ist für immer.«
12
Am frühen Nachmittag, nach der Wattwanderung, ließen wir uns alle miteinander im Café Hafenblick nieder. Das heißt, streng genommen waren es nicht alle. Die Schätze hatten sich schon wieder ein Eis zum Mitnehmen am Tresen geholt und lungerten jetzt draußen, sturmumtost, vor dem Jägerzaun herum, der die Caféterrasse mit den gestapelten Plastikstühlen vom Bürgersteig ab trennte. Wir Übrigen hatten uns, wie gesagt, ins Café verfügt. Bär bel und Ahimsa, Jan und Ann hatten sich an einen Tisch mit vier Holzstühlen gesetzt. Mir blieb nur der orange-gelb-blau gestreifte Strandkorb, der das Kopfende des Tisches einnahm.
Ich saß ein wenig unbehaglich darin, als wäre ich eine Königin wider Willen, die von einem gestreiften Kunststoffthron aus über die Geschicke ihres wild zusammengewürfelten Volkes entschied. Nichts schien heute zusammenzupassen. Als wäre die Welt ein klein wenig aus den Fugen geraten, als rüttelte der Herbststurm nicht nur an friesischen Fahnenstangen, sondern als wirbelte er auch die Gewissheiten durcheinander, die fein säuberlich in meinen verschiedenen Hirn- und Herzkammern einsortiert waren. Erst dieser Mann mit dem unverschämt blauen Blick und dem unanständig späten Geburtsdatum, dann das Wetter und meine durchkreuzten Reisepläne, jetzt auch noch ein Strandkorb mitten in einem überdachten Raum.
Die Kellnerin kam geschäftig an unseren Tisch getrabt, den Be stellungsblock in der Hand, den Stift gezückt. Ihr Ärmel war ein Stück nach oben gerutscht und entblößte ein Tattoo, riesige schwarze Buchstaben in Frakturschrift. Ein großes A war zu entziffern, sonst aber nichts.
Als sie Jan dort sitzen sah, wurde ihr Blick auf einmal ganz starr, und sie schüttelte leicht den Kopf, als könnte sie nicht glauben, was sie sah.
»Moin, Frauke«, sagte Jan und lehnte sich zurück, die Hände unterhalb des Bauchnabels gefaltet.
Ohne Jans Gruß zu erwidern, wandte sich die Kellnerin an Bärbel, Ahimsa und Ann. »Was kann ich Schönes für Sie tun?«, fragte sie und mied auch weiterhin Jans Blick.
Die drei bestellten grünen Tee, den es aber nicht gab, das heißt, im Prinzip gab es ihn schon, aber weil nachmittags am Platz nur Kännchen serviert wurden und Grüntee nur in der Tasse erhältlich war, stiegen sie auf »friesische Schietwettermischung« um.
Ich nahm das »Kaffeegedeck komplett«, das in der Kuchen-Happy-Hour zusammen nur 4,50 Euro kostete, inklusive Frie sentorte und Filterkaffee. Wahrscheinlich versaute ich mir damit mindestens eine ayurvedische Verjüngungsmassage. Aber das war ja jetzt auch schon egal. So viele Massagen, dass ich in Jans Altersgruppe passen würde, konnte Ose mir in einer Woche ohnehin nicht verpassen.
Als die Kellnerin es schließlich gar nicht mehr verhindern konnte, sah sie Jan an.
»Und du?«, fragte sie knapp.
»Fanta«, sagte er, »aber eiskalt.«
Sie notierte und verzog keine Miene. Ich war ein wenig befremdet. Noch nie hatte ich einen Mann gesehen, der älter war als dreizehn und freiwillig Limonade bestellte.
Außer den Emos mit ihrer gelben Bionade. Aber das behauptete auch nur meine Tochter.
»Die mag wohl keine Fanta«, sagte Ann und blickte Jan mit einem schwer zu deutenden Blick an, beinahe verschwörerisch. So als wüsste sie etwas, das wir anderen nicht wussten. Dabei konnte das gar nicht sein. Schließlich kannte sie Jan auch erst seit gestern Abend.
»Die mag nicht, wenn das Leben nicht nach ihren Regeln funk tioniert«, wisperte Jan so laut, dass es alle hören konnten, und zuppelte am Reißverschluss seines blauen Fleecepullovers.
»Also ich weiß nicht, wie es euch geht«, sagte Bärbel träumerisch und wickelte sich ein Stück Lederkette um den Zeigefinger, als wollte sie ihren Delfin an die kurze Leine nehmen. »Aber ich fühle mich jetzt doch deutlich geerdet.«
»Ja«, nickte Ahimsa nachdenklich, »ich gebe dir recht. Die Nordsee ist ein Kraftplatz ersten Grades.«
Kurze Zeit darauf kam Frauke
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