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Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janna Hagedorn
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Mandränke, der großen Sturmflut im Mittelalter, war die Hallig ungefähr dreimal so groß wie heute. Damals hat es sie in mehrere Teile zerrissen.«
    Wie Jan das so erzählte, bekam ich beinahe Mitleid mit den alten Steinen. Nutzlos standen sie herum, nie wieder würde der Raum sich bis auf den letzten Platz füllen, selbst wenn alle Inselbewohner kämen. Eine Bemerkung fiel mir ein, die meine Mutter neulich über Ronjas Kinderzimmer gemacht hatte. »Hast du schon überlegt, was du dir hier einrichten wirst, wenn sie aus dem Haus ist?«, hatte meine Mutter leichthin gefragt.
    Mit Schrecken war es mir klar geworden: Schon in wenigen Jahren würde mein eigenes Haus zu einem Museum werden, zu einem verwaisten Ort, an dem immer jemand fehlte. Selbst wenn man an den leeren Essplatz eine noch so geschmackvolle Vase mit Herbstblumen stellen würde. Oder das ehemalige Kinderzimmer zum Hobbyraum deklarierte und mit zusammengebissenen Zähnen behauptete, dass man sich schon immer nach mehr Platz für die eigenen Aktivitäten gesehnt hätte. Als könnte man damit irgendjemanden beeindrucken, einschließlich sich selbst.
    Wir gingen stumm weiter. Am Horizont, mitten im Watt, tauchte jetzt ein Gebäude auf und wurde langsam größer. Zu erst hielt ich es für eine Art Fata Morgana – wer sollte mitten im Meer ein Holzhaus bauen? –, aber als Jan meinen fragenden Blick bemerkte, nickte er mir zu und erklärte: »Das ist eine Rettungsbake. Für Surfer oder Wattwanderer, die von der Flut überrascht werden.«
    »Passiert denn so etwas?«
    »Du wirst lachen – das passiert in der Saison alle paar Tage.«
    »Aber warum sind denn die Leute so blöd?«, fragte ich. »Die wissen doch, dass mit den Gezeiten nicht zu spaßen ist.«
    Ich sah ihm dabei fest in die Augen. Schließlich hatte er mir erst gestern Abend verraten, dass er es selbst oft nicht so genau nahm mit den Regeln.
    Er hielt meinem Blick stand und zuckte die Schultern. »Es sind eben nicht alle so vernünftig wie du.«
    Vernünftig. Wow. Ich hatte ja nicht erwartet, dass Mr. Boldsum mich mitten im Watt mit kreativen Komplimenten überschütten würde. Aber dass er mich ausgerechnet »vernünftig« nannte, das war mir nun auch nicht recht.
    »Deine Frage bringt mich auf eine Idee«, flüsterte er mir verschwörerisch zu. Dann drehte er sich um, sodass er mit dem Gesicht zu unserer Gruppe stand.
    »Wir machen jetzt mal ein kleines Experiment«, sagte er. »Jedermann schließt die Augen …«
    »Und jede Frau«, warf Bärbel ein.
    »Okay. Einverstanden. Jeder Mann und jede Frau schließt die Augen und läuft los. Versucht, möglichst geradeaus zu gehen und euch nicht ablenken zu lassen. Erst wenn ich es sage, dürft ihr wieder schauen.«
    »Und wozu soll das gut sein?«, fragte Hans-Gerd grimmig.
    »Werdet ihr schon sehen.«
    »Hat vielleicht was mit den Wattwürmern zu tun«, wisperte Geli hoffnungsvoll.
    »Augen zu und durch«, sagte Jan.
    Nur sehr widerwillig klappte ich meine Lider zu und machte einen ersten Schritt. Dann noch einen. Und noch einen. Jeden Moment erwartete ich, an ein Hindernis zu stoßen oder zu stolpern. Aber da war nichts, nur das gleichmäßige Schmatzen und Knirschen unter meinen Sohlen, der Wind in meinem Gesicht, mit leichtem Regen vermischt, die Möwenschreie in der Luft. Ich gab mir große Mühe. Bei Ose hatte ich geschummelt, bei Jan traute ich mich das nicht.
    »Augen auf!«
    Als ich wieder hinschaute, verstand ich gar nichts. Wo war ich hingeraten? Ich stand noch immer im Watt, so viel war klar. Aber vor mir erhob sich in der Ferne nicht mehr die hölzerne Rettungs bake, sondern eine Insel, die vorher nicht da gewesen war. Umglitzert von Wasser, stand sie am Horizont, ein winziges Stück Land mit einem riesigen, rot-weiß gestreiften Leuchtturm. Sollte das etwa …?
    »Maike und Ann! Umdrehen!«
    Ich riss den Kopf herum in die Richtung, aus der Jans Stimme kam. Und verstand augenblicklich. Auch wenn es sich so angefühlt hatte, ich war überhaupt nicht geradeaus gegangen, sondern einen sauberen Halbkreis. Und das dort draußen war keine neue Insel, es war der Leuchtturm auf der Landspitze von Süderhörn, von wo wir losgegangen waren.
    Dann sah ich Ann. Sie war genauso einen wirren Halbkreis ge laufen wie ich, nur exakt in die andere Richtung, in perfekter Symmetrie. Zwischen unseren Fußspuren hätte man eine senk rechte Achse ziehen und das Ganze in einem Geometriebuch für die Unterstufe abbilden können. Auch Bärbel und Ahimsa hatten

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