Friesenherz
Monster ich nur erahnen konnte. Heute Mittag hatte ich einen anderen Mann geküsst als Torge, und jetzt, kaum sechs Stunden später, war ich sogar bereit, noch ganz andere Sachen mit ihm zu tun. Wenn das in dem Tempo weiterging, würde ich wahrscheinlich morgen früh per E-Mail die Scheidung einreichen. Um ein neues Leben als Gattin eines aufstrebenden Diplom-Wattführers in der Weltmetropole Boldsum-City zu beginnen, der nur den winzigen Schönheitsfehler besaß, fünfzehn Jahre jünger zu sein als ich. Aber das hatten ja auch schon andere Frauen vorgelebt. Liz Taylor. Madonna. Und wie hieß die andere noch, der ich beim Friseur immer begegnete, weil es nichts anderes zu lesen gab als die Gala? Genau, Demi Moore.
Ich war allerdings nicht Liz Taylor. Madonna schon gleich gar nicht. Trotz regelmäßigen Tandem-Trainings. Und bei Demi Moore war die Sache reichlich schiefgegangen, wenn ich das von meinem letzten Friseurbesuch noch richtig in Erinnerung hatte. Bei meinem Kurzhaarschnitt kam ich ja immer nur sehr flüchtig dazu, bunte Blätter zu lesen. Frauen mit komplizierten Strähnchenfrisuren kannten sich vermutlich besser aus in Hollywood. Die saßen da einfach dreimal länger als ich.
Und außerdem war das hier nicht Hollywood. Nicht der Sunset Boulevard. Nicht einmal der Boulevard of Broken Dreams. Sondern der Boldsumer Hauptdeich.
Und dann stand ich auch schon vor dem Schild mit der Nummer zehn, blickte hektisch hin und her zwischen den Wolkenfetzen am Himmel und der Hinweistafel mit den Bildern der heimischen Bodenbrüter, dem struppigen Dünengras zu meinen Füßen und dem Strand dort unten, auf dem ein paar Strandkörbe sich eng aneinanderdrängten wie eine Herde Schafe im Regen. Es war fünf Minuten nach neun und stockdunkel.
Jan war nicht da.
Er war nicht gekommen.
War ich vorhin hin- und hergerissen gewesen wie ein Segelmast bei Windstärke fünf, dann wurde ich jetzt innerlich hin- und hergeschleudert wie die Titanic kurz nach der Begegnung mit dem Eisberg. Ein Teil von mir war so erleichtert, als wäre er um ein Haar einer Flugzeugkatastrophe entgangen, als wäre im letzten Moment eine alles entscheidende Prüfung ersatzlos gestrichen wor den. Der andere Teil fühlte sich, als hätte er soeben einen Bauchschuss erlitten. War das am Ende ein blödes Spielchen?
Noch schlimmer: Saß Jan vielleicht gerade mit seinen zwei besten Freunden und der zickigen Café-Kellnerin da unten in einem der Strandkörbe, trank Glühwein und beömmelte sich vor Lachen, wie da oben diese nicht mehr ganz taufrische Bio- und Mathe lehrerin im Minirock auf dem Deich herumstakste auf der Suche nach einem erotischen Abenteuer? Hatten sie eine Wette am Laufen? Würden gleich um mich herum Scheinwerfer aufflammen und ein jovialer Privatfernsehmoderator mir sein Mikrofon unter die Nase halten? Na, liebe Frau Johannsen, was würde Ihr geschätzter Gatte wohl sagen, wenn er Sie in diesem Aufzug spätabends am Strand entdecken würde? Naaa?
So oder so, es gab nur eine Möglichkeit: so schnell wie möglich verschwinden, bevor mich noch jemand hier entdeckte. Schlimm genug, dass die Hundefrau mich gesehen hatte. Wenn die morgen früh beim Bäcker von ihrer merkwürdigen Begegnung erzählte, von meinem Aufzug und meinem Gestammel, dann würde am Abend jeder in ganz Boldsum Bescheid wissen. Ich sah schon die Überschrift in der Lokalzeitung vor mir: »Mannstolle Touristin lauert nachts auf Deich vergeblich auf Schimmelreiter«.
Wieder fiel ich beinahe über meine eigenen Hacken, als ich mich hektisch umdrehte und den Weg zurückstolperte. Alles schien sich jetzt über mich lustig zu machen, das Dünengras wisperte höhnisch, die Möwen kreischten vor Lachen am Nachthimmel.
Und dann sah ich den Lichtkegel einer Taschenlampe. Schwankend kam er näher, zitterte über den Asphalt des schmalen Weges, und bei jedem Schritt wurde die Gestalt dahinter größer und klarer zu erkennen.
Alles war anders. Jan war auf dem Weg. Alles war gut.
Alles war fürchterlich.
Alles war fürchterlich gut.
Ein akademisches Viertelstündchen. Ich hatte noch gar nicht gewusst, dass auch friesische Naturburschen sich das genehmigten. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich ihm ausweichen konnte, aber auf diesem Trampelpfad war das völlig unmöglich. Jeder Schritt brachte mich ihm näher, ob ich wollte oder nicht.
Ich wollte. Aber trotzdem blieb ich stehen. Das war ja wohl das Mindeste, dass er sich jetzt ein bisschen beeilte. Um ein Haar hätte er mich
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