Friesenherz
schließlich versetzt.
Hatte der ein Glück, dass er mich noch erwischt hatte.
Dem würde ich jetzt erst einmal so richtig den Kopf waschen. Was er sich eigentlich erlaubte, eine Frau einfach minutenlang nachts auf dem Deich warten zu lassen. Ob die Existenz von Armbanduhren noch nicht bis Boldsum vorgedrungen war, ob …
Dann stand er vor mir, ließ die Taschenlampe sinken und streckte eine Hand nach mir aus.
»Hey«, machte er und strahlte mich an.
Ich öffnete den Mund. Ich wollte etwas sagen, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, was. Eine Strafpredigt, das war es doch gewesen, oder nicht? Sollte ich vielleicht auch mit »hey« antworten? Und danach zu schimpfen beginnen? Oder sollte ich …
Und dann konnte ich nicht mehr sprechen. Weil da plötzlich etwas in meinem Mund war, das da eigentlich gar nicht hingehörte. Aber das sich dabei so anfühlte, als sollte ich es für immer dort behalten, mit unbegrenzter Aufenthaltsgenehmigung. Jans Zunge.
Schließlich, nach einem unbestimmten Zeitraum, der ein paar Sekunden gedauert haben konnte oder auch vierundzwanzig Stunden, ließ er von mir ab und hielt mich auf Armlänge entfernt. Dann grinste er so frech, dass ich seinem Blick kaum standhalten konnte.
»Schick gemacht, was?«, fragte er und griff nach dem Saum meines Rockes. Dann ließ er seine Hand dort liegen und fuhr mit den Fingerspitzen leicht darunter.
Das ging mir nun doch wieder ein bisschen zu schnell. War das so üblich? Machte man das so, war das die logische, nächste Stufe nach dem Küssen? Wo war das praktische Handbuch, in dem man so etwas nachschlagen konnte? Möglichst unter Berücksichtigung besonderer Umstände wie Eheringe (auch wenn die zu Hause im Schmuckkästchen ruhten), Altersunterschiede und Urlaubssituationen? Auf einmal bereute ich, dass ich Ann einige wichtige Fragen nicht gestellt hatte. Sie kannte sich vielleicht nicht aus mit langen Ehen. Aber mit flüchtigen Affären ganz sicher. Meine letzten Infos diesbezüglich stammten noch aus der Zeit, in der ich beim Friseur noch nicht die Gala gelesen hatte, sondern Mädchen . Und mit diesen Informationen konnte ich im Moment herzlich wenig anfangen. Dunkel erinnerte ich mich an ein Kapitel über Körpersprache: Wenn du einen Boy süß findest, steh nicht mit verschränkten Armen da, das wirkt abweisend.
Gar nicht so übel. Ein bisschen Abweisung würde Jan jetzt ganz guttun. Ich umklammerte mich selbst und wich einen Schritt zurück.
Jan hatte offensichtlich nicht die gleiche Art von Zeitschriften gelesen wie ich. Er folgte mir. Ließ seine Finger einfach dort, wo sie waren.
Das ging so nicht. Das machte man einfach nicht. Die Reihenfolge war falsch. Eigentlich fing es mit Essen an. Dann kam das Reden. Dann das Küssen. Danach mehr.
Zu essen würden wir um diese Zeit wohl nichts mehr bekommen. Also beschloss ich, es mit Reden zu versuchen.
»Wie ist das eigentlich so, hier zu leben?«, fragte ich. »Ich meine, jedes Jahr wird die Insel weniger. Ist das nicht schrecklich, wenn du weißt, deine Heimat geht irgendwann unter?«
Er zuckte mit den Schultern und ließ seine Finger unbeirrt höher wandern an meinem Bein. Das ging also auch: Reden und Fummeln. Ich löste meine Arme wieder. Offensichtlich brachte es nichts.
»Nix is für immer«, sagte er.
Für einen Augenblick machte ich mich ganz steif. Warum sagte er jetzt diesen brutalen Satz? Vielleicht sollten wir den Teil mit dem Reden doch lieber überspringen. Sobald Menschen den Mund aufmachten, liefen sie Gefahr, einander misszuverstehen, aneinander vorbeizureden oder nur das zu hören, was sie hören wollten. Eigentlich sollte ich so etwas wissen. In meinem Alter.
Aber jetzt war Jan so richtig in Fahrt, jedenfalls für seine Verhältnisse. Der Italiener unter den Nordfriesen. »Außerdem«, fuhr er fort, »meinst du ernsthaft, ich will für den Rest meines Lebens auf dieser Rentnerinsel versauern?«
Kurz überlegte ich, ob auch das eine subtile Botschaft war. Ob er mich damit meinte, ob er mich auch zu den Rentnern zählte. Aber was seine Hand da gerade tat, wo sie gerade tastete, mit der Selbstverständlichkeit eines unerschrockenen Naturforschers, entkräftete meinen Verdacht auf der Stelle.
Panisch funkte mein Hirn Befehle: Weg da! Auf die Finger hauen! Laut schreien! Aber mein Körper gehorchte nicht mehr. Schlimmer: Mein Körper gebärdete sich wie eine pubertäre Fünfzehnjährige im Manga-Outfit. Schön genau das Gegenteil tun von dem, das wohlmeinende Menschen
Weitere Kostenlose Bücher