Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janna Hagedorn
Vom Netzwerk:
dir sagen. Wenn ich vorhin noch nicht einmal gewusst hatte, dass ein Mädchen in mir steckte, dann waren das Mädchen und ich jetzt schon beim Vollkontakt angekommen.
    »Nicht?«, fragte ich tonlos. Irgendwo in meinem Kopf hatte es bis gerade eben eine Region gegeben, die komplexe Sätze bilden und komplexe Gedanken zu Ende denken konnte. Ich hatte bisher nicht gewusst, dass man diese Region einfach lahmlegen konnte. Und dass sich der Schalter offensichtlich an der Innenseite meines rechten Beines befand, auf halber Höhe zwischen Knie und Hüfte. Statt zurückzuweichen, drängte ich mich jetzt näher an Jan. Oder sollte ich besser sagen: Etwas in mir drängte sich näher an Jan? Jedenfalls geschah es, einfach so. Ich war mir keiner Schuld bewusst.
    »Weißt du«, sagte er träumerisch, »wenn man das mal verstanden hat, dass alles früher oder später verschwindet, von dem Mo ment an, da muss man keine Angst mehr haben. Die Halligbewohner, zum Beispiel. Die kapieren das. Die machen das nicht mit, Deiche ziehen und Land gewinnen. Die leben einfach damit, die lassen sich überschwemmen.«
    »Überschwemmen?«, hauchte ich tonlos und fühlte mich, als würde in meinem Inneren der Pegel ebenfalls gefährlich steigen, ein Pegel aus Hitze und Feuchtigkeit, eine rot glühende Säule.
    »Warst du mal in der Kirche auf Hooge?«, fragte Jan. »Die hat keinen Boden. Also, keinen festen. Sondern nur Sand und Muscheln. Zwei, drei Mal im Jahr wird die überschwemmt, bei der winterlichen Sturmflut. Wenn das Wasser im Boden versickert ist, kommt der Kirchendiener mit Eimer und Lappen, wischt das Salz von den Bänken, und gut is. Das find ich cool. Irgendwie … irgendwie philosophisch, verstehst du? Du kannst den Fluten sowieso nicht entgehen, egal, wie hoch du deine Deiche ziehst. Aber du kannst ihnen standhalten, bis sie sich wieder verziehen.«
    Dann nahm er plötzlich seine Hand weg, in letzter Sekunde, bevor ich eine Sturmflutwarnung in eigener Sache hätte herausgeben müssen. Ein Strandphilosoph mit Zauberfingern. Worauf ließ ich mich da nur ein?
    Während ich noch damit beschäftigt war, seine vorwitzige Hand zu vermissen, deutete er zum Himmel.
    »Schau mal«, sagte er, »sieht alles noch ganz friedlich aus, oder?«
    Ich konnte nichts erkennen außer schwarz und ein paar hellen Wolkenrändern.
    »Wenn du meinst«, schmollte ich. Ich wollte jetzt keine meteo rologischen Diskussionen führen. Ich wollte ganz dringend, dass Jans Finger ihre Reise fortsetzten, ganz egal, wo diese Expedition enden würde.
    »Aber von wegen«, sagte er. »Wenn man genauer hinschaut, dann sieht man schon, dass wieder ein Sturm im Anmarsch ist. Denn die Form dieser Wolke da oben …«
    »Jan?«
    »Hm?«
    »Jan!«
    »Was denn?«
    »Ich will das nicht wissen. Ich will … ich will …«
    »Ich weiß. Ich wollte dir ja was zeigen.«
    Wieder grinste er auf diese spitzbübische Weise, dann wühlte er in der Seitentasche seiner übergroßen Cargohose und zog schließlich einen kleinen, verrosteten Schlüssel heraus.
    »Weißt du, was das ist?«, fragte er wie ein Fernsehquizmaster und weidete sich an meiner Ahnungslosigkeit.
    »Ein Schlüssel. Für einen Briefkasten.«
    »Falsch. Nächster Versuch.«
    »Fahrrad?« In meinem Kopf fuhren nutzlose Gedankenfetzen Karussell. Was sollte das werden, eine Schnitzeljagd?
    »Weil du’s bist. Das ist mein alter Kellerschlüssel. Und der kann zaubern. Mit diesem Ding öffne ich dir jeden Strandkorb hier unten.«
    Dann nahm er mich an die Hand und zog mich die Treppe hinunter zum Strand. Pfahlmuscheln knackten unter meinen Soh len, Wasser spritzte, als ich durch eine Salzwasserpfütze stolperte. Im fahlen Licht konnte ich erkennen, wie Vögel durch das Watt tippelten, immer auf der Suche nach Nahrung. Ich musste daran denken, wie manche Arten ihr Körpergewicht vervielfachten vor dem langen Flug in den Süden, wie sie sich Reserven anfraßen, bis sie beinahe platzten, wie sie dann ganze Flugzeug-Fernstrecken ohne Pause bewältigten, um schließlich irgendwo an einer andalusischen Küste mit letzter Kraft zu landen. Ob ich das auch konnte? War es möglich, sich so viele Reserven anzuschaffen, Gefühle, Erinnerungen, Bilder, dass sie einen problemlos über Jahrzehnte tragen konnten? Oder hielt diese Art von Nahrung einfach nicht vor?
    Bei einem der verrammelten Strandkörbe blieb Jan stehen, fin gerte ein bisschen an dem Vorhängeschloss herum, und schon schnappte es auf. Das kleine Luder. Genauso leicht zu knacken

Weitere Kostenlose Bücher