Friesenherz
ich, »richtig anstrengend wird es erst bei der Geburt.«
Jetzt lachte Ann nicht mehr. Unsicher stand sie auf und folgte der Arzthelferin. In der Tür drehte sie sich noch einmal zu mir um.
»Sag mal«, fragte sie, »tut das eigentlich sehr weh?«
Ich überlegte einen Moment, ob ich sie anlügen sollte. Schließlich war über die Existenz des kleinen Zellknäuels noch nicht ganz entschieden. Ein falsches Wort konnte fatale Folgen haben.
»Ja«, sagte ich schließlich. »Aber glaub mir, es lohnt sich.«
Als Ann verschwunden war, stand ich auf und stellte mich ans Fenster. Die winzige Fußgängerzone draußen lag wie ausgestorben da. Nur zwei kleine Jungen kickten sich eine zerbeulte Getränkedose zu. Auf einmal überkam mich die Erinnerung, so frisch, als wäre es erst gestern gewesen. Die Erinnerung war weniger in meinem Kopf als in meinen Händen: Wie sich Ronja angefühlt hatte, als sie das erste Mal auf meinem Bauch gelegen hatte, warm und schleimig, aber überhaupt nicht unangenehm, im Gegenteil, wie mit einer kostbaren Körpercreme überzogen, die ich sanft in ihren winzigen Rücken einmassierte. Aber am meisten verblüfft hatte mich ihr Geruch, dieser saubere, warme Kuchenteigduft eines Neugeborenen, so erstaunlich appetitlich, wenn man bedachte, welchen Weg sie hinter sich hatte.
Doch. Es hatte sich gelohnt. Jeden einzelnen Augenblick.
Geistesabwesend nahm ich eines der Möwenkinder in die Hand und streichelte seinen hölzernen Schnabel. Schade eigentlich, dass Torge und ich nie ein zweites Baby bekommen hatten. Nicht, dass wir es von vorneherein ausgeschlossen hatten. Aber es hatte immer so viele gute Gründe dagegen gegeben. Mein Studium, das noch abgeschlossen werden musste, mit der kleinen Ronja im Schlepptau, Geldsorgen, das Referendariat, die Zeit, in der Ronja ständig unter Bronchitis litt und ich mit ihr regelmäßig ganze Nächte im Kinderkrankenhaus verbringen musste.
Und irgendwann, als alles gepasst hätte – da waren wir plötz lich, mit Anfang dreißig, alt und träge geworden. Alles noch einmal von vorne, die durchwachten Nächte, der stinkende Windeleimer auf der Terrasse, der Kinderwagen in den S-Bahn-Höfen ohne Rolltreppe – wo Ronja schon so selbstständig war, keine Hilfe mehr brauchte beim Anziehen und Bücherlesen und sogar selbst mit dem Fahrrad zum Kindertanzen fahren konnte? Das hatten wir uns nicht vorstellen können.
Ich stellte die Möwenfamilie um, sodass die Jungen sich eng zwischen die Eltern drängten, warm und geborgen. So war das richtig. Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sich früher als nötig verlor. Und dann für Momente wiederkam, wenn man es nicht mehr erwartete. Als Biologin wusste ich: Möwen gehörten zu den Semi-Nestflüchtern, ein seltsames Mischverhalten aus Anhänglichkeit und Abenteuerlust. Genau wie kleine Menschenkinder, die sich für weit erwachsener hielten, als sie waren.
Als die Tür wieder aufging, war Ann blass.
»Was ist los?«, erkundigte ich mich besorgt. »Stimmt etwas nicht?«
»Doch«, sagte sie, »wenn du so willst, stimmt alles. Es ist nur … es wird jetzt auf einmal so echt.« Sie krampfte ihre Hände in einander.
»Hast du Angst?«, fragte ich.
Sie blickte mich durchdringend an. »Angst? Nee.« Ihr Blick wurde finster. »Ich hab keine Angst. Mir geht der Arsch auf Grundeis.«
Wieder steckte die Arzthelferin ihren Kopf hinein.
»Frau Falk, die Frau Doktor erwartet Sie jetzt.«
Ich stand auf und legte eine Hand auf Anns Schulter.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, »ich komm mit.«
Das Sprechzimmer lag zur anderen Seite hinaus, durch das Fenster konnte man weit über das Wattenmeer blicken. Im Hintergrund konnte ich den Leuchtturm von Süderhörn sehen, und ganz fern am Horizont die Schutzhütte auf Stelzen, die wie ein Vogelhäuschen aus der Weite herausragte.
Die Ärztin war eine herbe Person mit ergrautem Kurzhaarschnitt. Konzentriert wühlte sie in ihren Unterlagen, dann ließ sie ihre flache Hand auf ein Patientenblatt sausen, als wollte sie es für etwas bestrafen. Sie blickte zwischen Ann und mir hin und her.
»So«, sagte sie, »und wer von Ihnen beiden ist jetzt meine Patientin?«
Ann tippte sich schüchtern mit einem Finger auf die Brust.
»Ich«, sagte sie, räusperte sich lang, wiederholte es noch einmal: »Ich.«
»Datum der letzten Periode?«, fragte die Ärztin.
Ann ließ sich einen Kalender geben, blätterte, nannte schließlich einen Termin.
»Ich kann Ihnen einen Ultraschall anbieten«,
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