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Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janna Hagedorn
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noch ein Grenzpolizist, sondern nur eine ältere Frau mit einem Golden Retriever an der Leine. Ich blieb einfach stehen, versuchte, möglichst unauffällig auszusehen, und spürte mit jedem Schritt, den die Frau machte, den ungewohnten Luftzug zwischen meinen Beinen. Wann hatte ich zuletzt so einen Rock getragen? Hatte ich jemals so einen Rock getragen?
    Die Frau kam näher, eher sah es so aus, als würde der Hund sie ziehen, als dass sie ihn führte. Sie schmetterte ein forsches »Moin«.
    »Das ist eine Luft hier draußen!«, gab ich dämlich zurück und atmete demonstrativ ein. Die Frau runzelte die Stirn, und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass sie alles wusste. »Das ist nämlich so«, setzte ich zu einer Erklärung an und starrte auf die Stirnrunzeln, die noch ein wenig tiefer geworden waren. Ich weiß nicht, was ich dieser wildfremden Frau an diesem Abend auf dem Deich noch alles erzählt hätte, hätte nicht im gleichen Augenblick der Hund etwas gewittert und sich mit seinem ganzen Gewicht in die Leine geworfen, sodass die Frau einfach weitergezogen wurde. Ich mur melte noch etwas, das klang wie das gedämpfte Grunzen eines Och senfrosches. Dann dankte ich im Stillen dem Golden Retriever, der mich vor einer größeren Peinlichkeit gerettet hatte. Von nun an würde ich schweigen und genießen. Egal, was kam.
    Ich zog meine Jacke dichter um mich, als ich weiterging. Explore the Wild . Ann hatte sie mir ausreden wollen, aber da war ich stur geblieben. Egal, wenn sie nicht zum Rest passte, sie passte zu mir, und sie hatte mich schon oft in den letzten Jahren gewärmt, wenn ich hinter Torge auf dem Tandem saß und wir durch die Hügellandschaft der Elbtalaue strampelten. Da konnte ich sie nicht von meinem ersten Date seit 1994 ausschließen.
    Mehr und mehr gewöhnten sich meine Augen an die diffuse Beleuchtung. Jetzt erkannte ich einen hölzernen Bootssteg, der weit ins Watt hineinführte. Ein Anflug von Mitleid überkam mich, wie er da so feuchten Fußes im feuchten Sand darauf wartete, dass das Wasser wiederkam und ihn aus seiner lächerlichen Situation befreite. Nichts konnte so unnütz sein wie ein Bootssteg ohne Was ser darunter. Rechter Hand warf der Leuchtturm von Süderhörn seine regelmäßigen Signale an den Nachthimmel, und ich war froh, dass ich nicht in seine Richtung gehen musste. Zu viel Licht vertrug sich nicht mit dem, was ich vorhatte.
    Was wir vorhatten.
    Der Weg verengte sich zusehends, irgendwann war er nicht mehr als ein schmaler Trampelpfad zwischen Dünengras rechts und links, begrenzt von halbhohen Drahtseilen, die zwischen Holzpflöcken gespannt waren, damit keiner auf die Idee kam, durch die Dünen zu laufen. An jeder der Treppen, die rechts an den Strand hinunterführten, waren Infotafeln zum Thema Küstenschutz angebracht. Wie es sich wohl anfühlte, auf einer dieser Inseln zu leben, die Jahr für Jahr mehr angeknabbert wurden von den Gezeiten, die allen Deichen zum Trotz irgendwann genauso überspült werden würden wie jene geheimnisvollen Städte, deren Tonscherben die Wattwanderer heute im Schlick fanden? Ein kühler Wind war aufgekommen, und immer wieder fuhr er in meine sorgfältig zurechtgemachten Haare, in die Ann vorhin noch eine Portion Gel geknetet hatte. Wahrscheinlich sah ich mittlerweile eher einem zerzausten Igelbaby ähnlich als einer sexy Bibliothekarin.
    Strandabschnitt sieben, acht, neun. Langsam breitete sich das taube Gefühl immer weiter in meinem Körper aus, kroch höher, füllte mich irgendwann ganz aus, als sei ich von Kopf bis Fuß mit Watte gefüllt. Besonders unangenehm war es an den Beinen, weil ich nicht einmal mehr spürte, wo der Stoff des roten Rocks noch auflag, weil es sich zur gleichen Zeit so anfühlte, als wäre ich komplett nackt und als steckte ich in einem wattierten Astronautenanzug.
    Seitdem es Männer und Frauen gab, hatten sie niemals aufgehört, sich zu betrügen, Schwüre zu brechen, Versuchungen zu erliegen oder gleich ganz neue Regeln aufzustellen, nach denen das schlechte Gewissen passé war und die Neugier auf fremde Körper eine völlig natürliche Regung. Wie hatte Dr. Sidhoo es genannt? Bei sich bleiben. Eigentlich ein sehr praktischer Gedanke. Wenn es nur darum ging, bei sich zu bleiben, musste man nicht auch noch darauf achten, ob ein anderer bei einem blieb. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber für mich war es ein großer Schritt.
    Nein, mehr noch als ein Schritt, eher ein Sprung in eine ungewisse Dunkelheit, deren

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