Friesenherz
sagte die Ärztin, »aber zu diesem Zeitpunkt kann ich Ihnen nicht garantieren, dass man schon besonders viel sieht.«
»Ach so«, sagte Ann und erhob sich halb im Sessel, »ja dann … ich meine, ich will nicht unnötig …«
Ich legte ihr die Hand auf den Arm.
»Doch«, sagte ich autoritär, »sie will.«
Die Ärztin zuckte mit den Schultern. »Gut«, sagte sie, »dann bitte einmal auf die Liege dort drüben.«
Während Ann sich hinter einer spanischen Wand halb auszog, scannte ich mit einem kurzen Blick den Schreibtisch der Ärztin und entdeckte einen Stapel Broschüren. »Pränataldiagnostik und Risikoschwangerschaft« – das kam später. Ich durfte jetzt nicht zulassen, dass Ann Futter für ihre Gegenargumente sammelte. Und wenn ich ihr Smartphone unauffällig verschwinden lassen musste.
Während ich noch dabei war, die Broschüren unter einen Sta pel mit Patientenkarteiblättern zu schieben, hörte ich schon die Stimme der Ärztin. Sie klang auf einmal deutlich weniger hart, beinahe mädchenhaft aufgeregt.
»Da!«, sagte sie. »Sehen Sie dieses kleine Pünktchen, das auf dem Schirm pulsiert? Das ist das Herz!«
Ich stand auf, stellte mich neben Ann und blickte auf den Monitor. In der Ultraschalltechnik hatte sich offensichtlich in den letzten Jahrzehnten nichts Bahnbrechendes getan, noch immer sahen Embryos auf dem Bildschirm nicht aus wie Babys, sondern eher wie Schafe im Nebel. Aber dieses kleine, rhythmische Signal in der Mitte, das hätte sogar ich als das erkannt, was es war.
»Da ist es«, sagte ich feierlich, »dein Baby.«
Ann blickte mich mit einem schwer zu deutenden Ausdruck an.
»Ich seh kein Baby«, gab sie schließlich zurück. »Aber ein Gummibärchen mit Lichtorgel. Das seh ich.«
Ich lächelte, und obwohl ich mich dabei nicht sehen konnte, wusste ich, dass es ein mütterliches Lächeln war.
»Genau so«, sagte ich versonnen, »genau so hat Ronja auch ausgesehen.«
Offensichtlich hatte ich das Falsche gesagt, denn jetzt stand auf einmal nackte Panik in Anns Gesicht geschrieben. Warum nur? War es die Angst vor der Verantwortung? Stellte sie sich vor, wie sie mit einem prallen Neun-Monats-Bauch auf der Bühne stand und ihre erotische Lyrik schmetterte?
Obwohl sie so viel älter war als ich bei meiner ersten Schwangerschaft, schien es ihr Leben noch deutlich mehr durcheinanderzubringen, so als wäre eine Bombe in ihre sorgsam ungeordnete Bohemien-Existenz hineingeplatzt.
Ich legte ihr die Hand auf die Schulter, und sie zuckte zu sammen.
»Hey«, sagte ich sanft. »Chill mal, Mama.«
20
Schon beim Kurhaus spürte ich meine Füße nicht mehr, und das lag nicht nur an den ungewohnten Schuhen mit den hohen Absätzen. Es war eher ein Gefühl der Unwirklichkeit, das Wissen, dass ich willentlich etwas herbeiführte, das eigentlich nicht sein durfte, aber unweigerlich passieren würde. Etwas, vor dem ich gleich zeitig eine höllische Panik hatte und in himmlischer Vorfreude dahinschmolz.
Klacker-di-klack machten meine Schritte auf dem Asphalt des leeren Strandparkplatzes, ein Geräusch, das ich gar nicht von mir kannte. Ich zog den Kopf ein, als erwartete ich, dass jederzeit der Kurdirektor und seine Assistentin ein Fenster im Kurhausbüro aufreißen und anklagend auf mich zeigen würden: Da, das ist sie, diese Lehrerin mit dem Eigenheim in Hamburg-Volksdorf. Die geht gerade ihren Mann betrügen.
Aber alles blieb still, nur das entfernte Rauschen des Meeres drang an mein Ohr.
Auf den sandüberwehten Stufen, die zum Deich hochführten, versank ich beinahe rückwärts. Ich konnte mich nur noch halten, indem ich mich tollkühn nach vorne warf, und fragte mich, wie andere Frauen diese Gleichgewichtsübung bewerkstelligten, die ständig auf Pumps durchs Leben stöckelten. Ich kam an dem Häuschen vorbei, in dem in der Saison der Strandwächter saß und Kurkarten kontrollierte, und zog unwillkürlich den Kopf ein. Schon wieder fühlte ich mich beobachtet, so als würde ich bei Nacht und Nebel ohne Ausweispapiere eine Grenze passieren. Als müsste sich jeden Moment der Lichtkegel einer Polizeitaschenlampe auf mich richten: Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden.
Schließlich stand ich auf der Deichkrone. Im nächsten Moment sah ich in einiger Entfernung eine Gestalt, die langsam näher kam, und mein Herz polterte im freien Fall in die Tiefe, bis es irgendwo auf Höhe meiner Fersen zum Halten kam. Aber die Gestalt war weder Jan
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