Friesenherz
roten Mini gepasst – aber dafür war »Versagen« wohl doch ein zu großes Wort. Gut, ich fand es ein wenig unritterlich, dass Jan mich später am Abend nicht zum Hotel begleitet hatte. Sondern sich so bestimmt auf sein Fahrrad auf dem Deichparkplatz geschwungen hatte, dass mir jeder Protest zwecklos vorgekommen war. Aber das war dann höchstens Versagen auf seiner Seite, nicht auf meiner.
Erst, als ich mich im Bett auf die andere Seite wälzte, fort von dem leicht fauligen Luftstrom aus Anns Mund, fiel es mir wieder ein.
Ich hatte geträumt.
Gnädigerweise kamen in diesem Traum keine Männer vor. Wenigstens nicht der, mit dem ich verheiratet war. Und auch nicht der, mit dem ich gerade kräftig an den Fundamenten dieser Ehe herumsägte. Dafür Oberstudienrat Heinz Sczcepnonik, Lehrer für Mathematik und Informatik am Kreisgymnasium Buxtehude, der mir mit sorgenvoller Miene eine dicht bedruckte Seite mit Abituraufgaben überreichte. Während mir im gleichen Moment siedend heiß einfiel, dass ich mich nicht das kleinste bisschen vorbereitet hatte. Und so saß ich denn in einer der wichtigsten Prüfungen meines Lebens und wusste nicht einmal, was der Unterschied zwischen Differenzial- und Integralrechnung war. Während ich im Traum so lange einen Bleistift spitzte, bis nichts mehr davon übrig war, war ich schließlich aufgewacht und hatte panisch meine Füße unter die Decke gezogen.
Natürlich wusste ich, dass mein Traum nichts mit der Realität zu tun hatte. In Wirklichkeit hatte mich Oberstudienrat Sczcepnonik niemals so dackeläugig angesehen, damals vor über zwanzig Jahren, sondern immer mit einem ermutigenden, beinahe spitzbübischen Zwinkern. Einem Gesichtsausdruck, den er ausschließlich für mich reserviert hatte. Ich war das einzige Mädchen gewesen im Mathe-Leistungskurs, und dann noch das mit den besten Noten. Nicht mal besondere Angst vor der Abiprüfung hatte ich gehabt. Was suchte mich auf einmal dieses unrealistische Szenario heim? Es musste etwas mit Vorbereitung zu tun haben. Eine Aufgabe, auf die ich nicht vorbereitet war. Etwas, das ich nicht geübt hatte und auf einmal können sollte.
Wobei ich das, was ich plötzlich können sollte, noch nie be herrscht hatte.
Es gab Dinge im Leben, die konnte man nicht verlernen. Aus irgendeinem Grund fiel den meisten Leuten dazu als Erstes Fahrrad fahren ein, aber es gab noch andere Beispiele. Küssen war so eine Sache, die automatisch ging, oder ein Baby hochnehmen, mit zwei Fingern den Nacken gestützt, auch wenn man selbst schon seit Jahren kein Baby mehr hatte. Aber wie das richtig funktio nierte zwischen zwei Menschen, die scharf aufeinander waren oder gar verliebt, das hatte mich schon damals überfordert.
Vor allem, weil es in dieser Kunst weniger darum zu gehen schien, Dinge zu tun, als vielmehr, Dinge zu lassen. Also nicht die Abende vor dem Telefon zu verbringen und schon gar nicht von sich aus zum Hörer zu greifen; nicht zu akzeptieren, dass ein Kerl samstagabends alleine ausgehen wollte, und dann sonntagmittags doch wieder für ihn zu kochen; sich nicht kreischend in die erste Reihe eines miserabel besuchten Konzertes zu stellen, wenn einem der Sänger gefiel … Ich konnte nur raten, was in den letzten fünfzehn Jahren an neuen Stoppschildern errichtet worden war im Irrgarten des Herzklopfens. Als ich zuletzt darin festgesteckt hatte, hatte es keine Handys gegeben, kaum jemanden mit einer E-Mail-Adresse. Es hatte gereicht, stoisch vor dem Telefon auf eine Nachricht zu warten und so zu tun, als warte man nicht. Galt das jetzt für sämtliche Kommunikationskanäle? Wieder einmal war ich froh, dass ich mir nie einen Facebook-Account zugelegt hatte. Nicht nur, weil ich nicht mit meinen Schülern befreundet sein wollte, schon gar nicht online. Vor allem das Beispiel meiner Nach barin hatte mich abgeschreckt. Die hatte sich so ein Ding eingerichtet und als Erstes eine Freundschaftsanfrage an ihre fünfzehnjährige Tochter geschickt. Die Tochter hatte abgelehnt und alle weiteren Kontaktversuche ihrer Mutter für alle Zeiten blockiert. Auf Facebook. Und auf Twitter.
In den Neunzigern war es schrecklich gewesen, verliebt zu sein. Fünfzehn Jahre später war es der absolute Horror.
Ich griff nach meinem Handy auf dem Nachttischchen und tippte versuchsweise auf »Nachrichten«. Das Display leuchtete im Dunkeln auf. Alles, was ich fand, war eine Einkaufsliste von Torge. »200 G ITALIEN. SALAMI «. Alles in Großbuchstaben. Bis heute kam mein Mann
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