Friesenherz
beantwortet hatte. Auch wenn ich in der Sache hart bleiben würde. Meine Tochter brauchte Hilfe und Verständnis. Und nicht diese letzten Erziehungsversuche, die in dem Alter ohnehin nicht mehr viel brachten. Wenn ich wieder zu Hause sein würde, musste sich einiges ändern.
Ich zählte kurz die verbliebenen Tage bis dahin zusammen. Dann die Nächte.
Leider waren das auch nicht mehr.
Geli Schatz kam an mir vorbei, die Portionspackung Honig in der Hand, und sah mich besorgt an.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte sie. »Ist dir die Frau mit dem roten Rock begegnet?«
»Nein«, sagte ich ausdruckslos. »Die bin ich selbst.«
Jetzt sah Geli nicht mehr besorgt aus, sondern so, als hätte ich ernsthaft einen an der Klatsche. Schließlich wandte sie sich ab und lief auf ihren Frühstückstisch zu. Schon von Weitem sah ich, dass ihr Mann sie dabei anstrahlte, und wunderte mich. Was war denn da passiert? Hatten sie etwa einen unschlagbaren Deal beim Kauf eines friesischen Fischerhemdes gemacht? Zehn Stück gekauft, dazu ein Gratis-Halstuch?
Ich nahm mein Telefon wieder zur Hand. »Anruf beenden?«, fragte mich ein aufdringliches Dialogfenster, und ich drückte schnell auf Ja, nicht, dass ich noch immer Ronjas Klassenlehrerin in der Leitung hatte. Dann wählte ich das Adressbuch aus und tippte auf »Zu Hause«. Donnerstags ging Torge immer später ins Büro und blieb dafür länger wegen der wöchentlichen Konferenzschaltung mit den amerikanischen Geschäftspartnern am Abend. Es ging um Ronja, das musste er wissen, und da gab es keine Zeit zu verlieren. Und diese Tatsache löste gleichzeitig eines meiner drängendsten Probleme.
Denn während ich mich heute Morgen noch im Bett gewälzt hatte, neben einer völlig geräderten Ann, die schließlich wieder in die Kissen gekrochen und sofort eingeschlafen war, hatte ich die Frage ausführlich mit mir selbst erörtert: Wann und wie sollte ich mit meinem Mann sprechen?
Es war keine Option, ihm von Jan zu erzählen, wenigstens nicht so, nicht jetzt, nicht am Telefon. Aber wenn ich mich gar nicht gemeldet hätte, dann hätte er sich ebenfalls gewundert. Und auch das galt es zu vermeiden. Den Gedanken an eine SMS hatte ich verworfen, er war in der Lage, solche Nachrichten tage- und wochenlang zu ignorieren, und er wusste auch, dass ich das wusste. Vielleicht ein Anruf kurz vor dem Ende seiner Mittagspause?
Merkwürdigerweise war mir nicht so sehr die Tatsache unangenehm, dass ich so eine komplizierte Verschleierungstaktik gegenüber dem Mann anwandte, mit dem ich seit 1995 verheiratet war, sondern eher die Tatsache, dass die Verschleierungstaktik zu hundert Prozent aufgehen würde. Er würde nichts merken. Nichts davon würde ihm auch nur ansatzweise merkwürdig vorkommen. Es war erschreckend, wie leicht es war zu lügen, ohne zu lügen. Wahrscheinlich war es möglich, ein Doppelleben zu führen, ohne ein einziges Mal die Unwahrheit sagen zu müssen. Wenigstens eine Zeit lang.
Ich musste daran denken, wie ich vor vielen Jahren einmal eine Überraschungsparty für Torge organisiert hatte. Wie ich tagelang während seiner Arbeitszeit am Telefon gehangen, konspirative Gespräche mit Freunden geführt, aufgepasst hatte, dass er mir beim Mailschreiben nicht über die Schulter schaute. Es war so einfach gewesen, dass er keinen Verdacht geschöpft hatte, bis zu dem Moment, an dem zwei seiner alten Studienkollegen mit einer Kiste naturtrüben Ökobiers über unseren Rasen gelatscht kamen.
Schon damals war mir dieser ketzerische Gedanke gekommen, wenn auch nur flüchtig: nichts leichter, als Torge zu betrügen.
Ich lief mit dem Handy auf den Flur und tigerte dort auf und ab. Musste ja nicht jeder mithören. Die Worte »Zu Hause« erschie nen jetzt größer auf meinem Display, und das Freizeichen tutete in mein Ohr. Das tat es ziemlich lange, und ich sah es vor mir, ein kleines, zierliches Handgerät in der zu großen Halle unseres alten Hauses, eine Halle, die eigentlich für altmodische Apparate gemacht war, die mit Dringlichkeit durch das Haus schrillten. Als Torge schließlich dranging, klang er gehetzt.
»Schatz«, begann ich aus alter Gewohnheit, überlegte kurz, dass ich möglicherweise mein Recht verwirkt hatte, ihn so zu nennen, weil er mir ja so kostbar nicht sein konnte, nach dem, was heute Nacht im Strandkorb passiert war, fuhr dann aber doch fort: »Schatz, ich hab gerade einen Anruf von Ronjas Lehrerin bekommen. Wo war sie letzte Woche, wenn sie nicht in der Schule
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