Friesenherz
nicht mit der Groß- und Kleinschreibfunktion seines Handys klar. Dabei leitete er ein Unternehmen, das entscheidende Weichen stellte für die bundesdeutsche Energiewende. Nun, man musste Prioritäten setzen.
Aber keine Nachricht von Jan. Sechs Stunden seit unserer Verabschiedung auf dem Deichparkplatz, und immer noch nichts. Dabei hatte ich ihm die Handynummer persönlich ins Gerät diktiert, halb nackt und frierend im Strandkorb.
»Machs’n da?«
Ich fuhr erschrocken herum, wobei das Telefon beinahe zu Boden gefallen wäre. Ann richtete sich schwerfällig halb auf, stützte sich auf ihren Ellenbogen und blinzelte.
»Gar nichts«, sagte ich eilig. »Schlaf weiter.«
Ann ließ sich seufzend zurückfallen. »Tolle Nummer«, murmelte sie, »erst hier das Flutlicht anwerfen und mich aufwecken, und dann so auskunftsfroh sein wie der Militärische Abschirmdienst.«
Auch ich ließ mich zurückfallen. Wir lagen nebeneinander in unserem Doppelbett wie ein altes Ehepaar, wie Ernie und Bert, Hände auf der Bettdecke gefaltet, und starrten vor uns hin.
»Und?«, flüsterte sie schließlich.
»Ann«, fragte ich, »du musst mir jetzt mal ein paar Tipps geben. Was macht man heutzutage, wenn man verliebt ist?«
Ann riss theatralisch die Augen auf und schlug sich die Hand vor den Mund. Hoffentlich wurde ihr nicht schon wieder schlecht.
»Um Gottes willen«, stöhnte sie. »Sag, dass das nicht wahr ist!«
»Wieso?«, fragte ich irritiert. »Du hast doch gewusst, dass ich mich mit Jan treffe! In deinem eigenen Rock!«
»Klar hab ich das. Aber so schlimm gleich?«
»Schlimm?«
»Du hast das V-Wort gesagt.« Ann schüttelte den Kopf. »Das ist doch nicht dein Ernst! Wie alt bist du eigentlich? Siebzehn?«
Ich hatte es geahnt. Neben all diesen Verboten, dem Kontaktverbot, dem Bühnenjubelverbot, dem besonders strengen Über raschungsbesuchsverbot, gab es noch ein Tabu. Das größte, das schwerste, das allerwichtigste.
Man durfte sich unter keinen Umständen verlieben.
»Na ja«, redete ich mich heraus, »wie man das halt so sagt, wenn man die halbe Nacht … also mehr oder weniger …«
»Wir sind hier unter erwachsenen Menschen. Gib’s zu.«
»Was zugeben?«
»Mehr? Oder weniger?«
»Eher mehr als weniger.«
»Aber ihr habt nicht …?«
»Nein. Das dann doch nicht.«
»Komisch«, seufzte Ann, »das hab ich nie so recht verstehen können. Ich meine, wenn mal eine Grenze überschritten ist, wenn man sich schon mal körperlich nähergekommen ist als zwei Nachbarn, die sich auf dem Wochenmarkt treffen, wozu dann noch diese Unterscheidung zwischen richtigem Sex und Rahmenpro gramm?«
»Tja«, sagte ich trocken, »du siehst ja, wohin es dich gebracht hat.«
Ann atmete geräuschvoll ein, als wollte sie etwas sagen. Dann hielt sie die Luft an und atmete langsam aus. Hatte ich mich wohl getäuscht. Fing sie jetzt schon mit ihren Atemübungen für die Geburt an? Oder gehörte das mal wieder zum Ayurveda?
Schließlich sagte sie doch etwas. Es klang ungefähr wie: »Mir ist so schlecht.« Dann ging sie gemessenen Schrittes ins Badezimmer und begann zu würgen.
Elfeinhalb Stunden nach dem Abschied auf dem Deichparkplatz klingelte das Handy endlich los. Ich stand gerade Schmiere, damit Lisi Schleibinger nicht mitbekam, dass sich Geli Schatz eine Portion Waldhonig in ihren grünen Tee genehmigte. Es war ein seltsames, schönes Erschrecken, das durch meinen ganzen Körper zuckte, winzige Punkte an unerwarteten Stellen aufglühen ließ, an meiner Schulter, am Ellenbogen, am Knie. Ich zwang mich, es noch einmal mehr klingeln zu lassen, immerhin ein Gebot, bei dem mir die Verzögerung nicht ganz so schwerfiel, diese eine, kost bare Sekunde. Dann griff ich nach dem Telefon.
Es stand aber gar nicht Jans Name auf dem Display. Sondern eine Hamburger Telefonnummer, die mir nicht bekannt vorkam. Alles in mir fühlte sich dumpf an, so als hätte man einen Sandsack über den glühenden, knisternden Punkten in meinem Körper ausgeleert.
»Johannsen«, meldete ich mich knapp und in einem Ton, der unmissverständlich signalisierte, dass ich nicht in Stimmung war, mir irgendetwas aufschwatzen zu lassen. Keinen neuen Telefontarif mit Entertainment-XL-Paket, kein Abo einer naturwissenschaftlichen Jugendzeitschrift für mein Kind, das kein Kind mehr sein wollte, und auch keine neuen Sportsättel im Doppelpack.
»Frau Johannsen? Rosenkötter-Linsenbold am Apparat. Ronjas Klassenlehrerin.«
Mit einem Mal war alles weggeblasen, die
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