Friesenherz
war.
War klar, was Ann mir immer wieder versucht hatte zu sagen, während ich in meiner Begeisterung über ihren Zustand gar nicht hatte hinhören wollen.
War klar, warum sie so panisch reagiert hatte, als ich ihr Baby im Ultraschall mit Ronja verglichen hatte.
War sogar klar, warum Torge plötzlich wieder seine Joggingschuhe schnürte. Und mir ein Geburtstagsgeschenk machte, mit dem er mich für ein paar Tage loswerden konnte.
Was hatte Ann gesagt, als ich sie nach ihrem Ex gefragt hatte? Und ob sie noch einmal mit ihm im Bett gewesen sei?
So ähnlich, hatte sie gesagt.
Mit einem winzigen Unterschied. Es war ganz zufällig ein anderer Mann gewesen. Und zwar …
» Mein Mann ist der …«, stammelte ich.
Ann nickte und sah nun beinahe erleichtert aus.
»Ich bin schwanger von Torge«, sagte sie.
Und ich konnte für einen Moment nicht anders, als zu denken: Offensichtlich ist heute der Tag, an dem endlich Klartext geredet wird.
23
In der Fischertwiete sah es exakt so aus wie auf den Fotos mit den Immobilienangeboten, die in den verstaubten Schaufenstern der örtlichen Sparkasse hingen. Weiß gekalkte Reetdachhäuschen duck ten sich rechts und links der Kopfsteinpflasterstraße, hinter Feld steinmauern wuchsen Heckenrosen, in den Vorgärten knarrten Fah nenstangen im Wind, auf denen die Friesenflagge mit dem heißen Kochtopf darauf wehte, und unter hölzernen Carports schliefen Schiffe auf den Ladeflächen von Pick-ups unter großen dunklen Plastikplanen. Altmodische Straßenlaternen mit geschwungenen, verschnörkelten Pfählen warfen ihre gelben Lichtkreise auf den ungeteerten Gehweg.
Wo man einen Blick hinter die Scheiben mit den weißen Fensterkreuzen werfen konnte, war alles von einer puppenstubenhaften Aufgeräumtheit. Karierte Vorhänge, hölzerne Tische, Anrich ten, die aussahen wie Großmutters Erbteil. Hier mussten glückliche Menschen leben. Mütter, die morgens daumendick Pflaumenmus auf die Stullen ihrer Kinder schmierten, Väter, die die Dachbalken für die gute Stube in wochenlanger Plackerei selbst abgeschliffen hatten.
Sie führten das Leben, von dem ich auch immer geträumt hatte, in meinem geschmackvollen Haus am Hamburger Stadtrand. Nur, dass ich offensichtlich jahrelang, ohne es zu ahnen, in einer Kulisse gelebt hatte, schön, aber unecht. Solche Geschichten wie die, in der ich unversehens gelandet war, inklusive Ehebruch, unge wollte Schwangerschaften und durchgeknallte Künstlertypen, kann ten die mit Sicherheit nur aus dem Fernsehen.
Aber ich saß nicht in der Ecke und heulte, o nein. Ich nicht. Ich war unterwegs. Ich kannte mein Ziel. Und ich wollte nur das eine.
Nachholen, was ich vorige Nacht mit Jan versäumt hatte.
Mir nehmen, was mir zustand.
Zur Sicherheit angelte ich noch einmal den zerknitterten Flyer aus der Jackentasche und blickte auf die Adresse. Fischertwiete 20, es konnte nicht mehr weit sein. Das Papier hatte ein bisschen gelitten. Kein Wunder. Schließlich trug ich Jans Werbeprospekt in der Innentasche herum, seit ich vor vier Tagen erfolglos versucht hatte, die Insel zu verlassen. All das, was diese Jacke seither gesehen und erlebt hatte und was in ihrem Schutz passiert war, konnte natürlich nicht spurlos an Jan vorübergegangen sein. Schon gar nicht an seinem Bild.
Im dämmrigen Spätnachmittagslicht wirkte das Gesicht auf dem Porträtfoto faltig und zehn Jahre älter. Wie fünfunddreißig. Wie würde er bis dahin in Wirklichkeit aussehen, mit einer Spur von Grau in den Haaren, mit Lachfältchen in den Augenwinkeln, wie eingemeißelt von Salz und Wind und Sand? Die Zeit war auf seiner Seite, sie würde ihn noch attraktiver machen. Gott, war das ungerecht. Ich strich das Glanzpapier sorgsam glatt und steckte es wieder ein.
Vielleicht war es ein bisschen peinlich, so unangemeldet bei ihm aufzutauchen. Aber zum Teufel damit. Wozu war man vierzig Jahre alt, wenn einem die Jahre nicht wenigstens eine gewisse Narrenfreiheit erlaubten, als Trostpreis für die Dellen in der Bauchdecke? Als Trostpreis, weil mir die Jahre nicht so gut standen, wie sie Jan stehen würden? Und wer hatte verordnet, dass ich wie ein Teenager auf mein Telefon starren musste nach der ersten gemeinsamen Nacht?
Ann mochte das anders sehen, aber das war kein Grund mehr für mich. Ganz im Gegenteil: Es war ein Grund, genau das Gegenteil davon zu tun. So lange hatte diese Frau ihr perfides Spiel mit mir gespielt, dass ich nicht mehr wusste, was ich ihr noch glauben sollte.
Zu allem Überfluss
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