Friesenherz
Kopf gesenkt. Tränen strömten über ihr Gesicht. Sie schluchzte.
»Ich seh’s einfach nicht!«, wimmerte sie. »Ich bemüh mich und bemüh mich und bin positiv und lasse gute Energy zu mir rein, aber ich seh’s einfach nicht!«
»Was siehst du nicht?«, fragte Geli und blinzelte, als sei sie eben aus einem sehr schönen Traum hochgeschreckt. Wahrscheinlich hatte die Übung bei ihr bestens funktioniert, und sie hatte alles in 3-D gesehen, gerochen und gehört: seidiges Katzenfell, den ste chenden Geruch aus den Katzenklos und dazu das Niesen ihres ergebenen Göttergatten, der ihr trotz schwerer Allergie hilfreich bei ihrem Herzensprojekt zur Seite stand. Dabei fiel mir auf, dass ich sie seit mindestens vierundzwanzig Stunden nicht mehr von ihrem Sohn hatte reden hören. Ich war mir nicht ganz sicher, warum, aber irgendwie gefiel mir das.
»Das Gesicht!« Bärbel jaulte beinahe auf. »Er hat einfach kein Gesicht!«
Geli schaute schon wieder fragend, aber Dr. Sidhoo forderte sie mit einer leichten Berührung an der Schulter auf zu schweigen. Dann rieb sie ihre Handflächen aneinander und nahm Bärbels Finger zwischen ihre. Zuerst schluchzte Bärbel nur noch lauter, dann ebbte ihr Gefühlsausbruch langsam ab. Ich setzte mich halb auf und stützte mich auf den Ellenbogen, ein wenig erleichtert, dass wenigstens mir heute niemand mehr kritische Fragen nach meinem Dharma stellen würde. Hier hatte jemand anderer Hilfe nötiger.
Bärbel starrte auf ihre Hände, die noch immer von Dr. Sidhoos umschlossen waren. Dann befreite sie ihre Finger mit einer ruckartigen Bewegung.
»Es ist doch immer der gleiche Scheiß«, murmelte sie.
»Wie bitte?«, fragte Dr. Sidhoo mit einem leicht amüsierten Ta del in der Stimme. Diesen Tonfall kannte ich. So reagierte ich auch immer, wenn Ronja Kraftausdrücke benutzte.
Aber bei Bärbel hatte die Taktik offensichtlich die gegenteilige Wirkung.
»Immer der gleiche Scheiß«, wiederholte sie jetzt lauter, »immer dieser Versuch, sich mit positiver Energie aufzuladen, verantwortlich zu sein für das eigene Leben, bei sich zu bleiben. Ich will aber nicht bei mir bleiben, verdammt. Ich will bei jemand bleiben, den ich liebe.«
Bärbels Stimme zitterte wieder leicht, dann fing sie sich.
»Weißt du«, sagte sie angriffslustig zu Dr. Sidhoo, »das hört sich in der Theorie immer ganz toll an. Sich nicht von seinen Ängsten beherrschen lassen, zu den eigenen Wünschen stehen, blablabla. Nur blöderweise reagiert die Umwelt nicht so, wie’s in der Hindu-Bibel steht. Blöderweise passiert eben genau das, was man sich in seinen schlimmsten Albträumen immer vorgestellt hat. Und dann? Hä? Meinst du, mit ein bisschen Händchenhalten und Aura-Stärken ist dann alles wieder gut?«
Jetzt konnte Geli sich nicht mehr zurückhalten. »Aber wer ist das denn jetzt, der Mann ohne Gesicht?«, fragte sie.
Bärbel blickte sie an, als sei sie ein besonders begriffsstutziges Kind.
»Ist ja wohl logisch«, zischte sie, »der Bräutigam.«
»Du hast wirklich an eine Hochzeit gedacht!«, rief Geli ent zückt.
Bärbel atmete tief ein und aus, sodass der Delfinanhänger an ihrer Kette zu vibrieren begann.
»Er ist weg«, sagte sie dann schlicht. Diesmal blieb ihre Stimme fest.
Sie blickte in die fragenden Gesichter um sich herum, dann sah sie Dr. Sidhoo fest an und fuhr fort: »Ich habe genau das getan, was du geraten hast. Ich war ehrlich, vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Ich habe Ahimsa gesagt, dass ich nicht klarkomme mit diesem täglichen In-sich-Gehen und Nachspüren, was sein empfindlicher Beziehungstemperaturregler heute anzeigt, und wo es je den Tag passieren kann, dass der plötzlich unter null steht. Dass ich Sicherheit haben möchte, dass ich möchte, dass er zu mir steht.«
»Du hast ihm einen Heiratsantrag gemacht? Ganz in echt?«, rief Geli entzückt. Offensichtlich hatte sie schon wieder vergessen, dass diese Geschichte nicht nach Happy End aussah.
»Sozusagen«, gab Bärbel bitter zurück. »Ich hatte allerdings keinen Verlobungsring im Nachtischpudding versteckt, wenn du an so etwas dachtest. Vielleicht war ja genau das der Fehler.«
»Ich hatte damals auch keinen Verlobungsring im Nachtisch«, sagte ich gedankenverloren. »Ich hatte überhaupt keinen Ring.«
Bärbel blickte mich böse an. »Aber offensichtlich bist du trotzdem nicht gleich mit der nächsten Fähre abgehauen.«
»Ahimsa ist weg?«, fragte ich bestürzt.
Geli legte Bärbel zögernd die Hand auf den Rücken.
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