Friesenherz
hatte sie offenbar auch noch gedacht, ich würde ihr … ja, was eigentlich? Verzeihen? Sie tröstend in den Arm nehmen und meine Babysitterdienste anbieten, weil sie es als alleinerziehende Mutter schwer haben würde? Sie gemeinsam mit dem Kindsvater auf eine Wellnessreise für Schwangere schicken, damit die werdenden Eltern in Ruhe Zeit miteinander verbringen konnten? Wir waren hier doch nicht in der Kommune 1! Über vierzig Jahre war es her, dass Leute versucht hatten, so zu leben. Die Klotüren auszuhängen und gleichzeitig Eifersucht und Besitzansprüche abzuschaffen. Wie das Experiment geendet hatte, war bekannt. Die einen waren tot, die anderen traten als weiß gekleidete Gurus im Dschungelcamp auf, nur Uschi Obermaier lebte immer noch als glückliche Schmuckdesignerin in Kalifornien.
Dagegen konnte Ann jedenfalls nicht anstinken, mit ihrer dile ttantischen Schamhaarbastelei und ihrer pubertären Unterleibslyrik. Und so gut wie Uschi sah sie nun auch wieder nicht aus. Bei Weitem nicht.
Dieser Blick! Diese Schafsköpfigkeit, mit der sie mich angesehen hatte, die grünen Augen feucht schimmernd, mein Telefon in der Hand, aus dem das aufgeregte Gebrabbel meines Mannes drang. Meines Noch-Ehemannes, korrigierte ich mich.
Alles, alles hatte ich Torge geopfert: meine Reiselust und meine Neugier, meinen straffen Busen von 1995 und sogar einen hei ßen Sommer in Sevilla. Einen Sommer, in dem ich mit Walkman auf den Ohren im Regen getanzt hätte, große Tropfen dampfend auf heißem Pflaster; einen Sommer, in dem ich vielleicht nächte lang weintrinkend an einem Holztisch gesessen hätte bei weit geöffnetem Fenster, gemeinsam mit einem Mann mit einer Unterlippe, der einfach alles zuzutrauen war. Und Torge? Der hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als aus einer Reihe von berufsjugendlichen Partygängern eine verlebte Pippi Langstrumpf ab zuschleppen und …
Wie hatte er sie wohl genannt? Was hatte er gesagt, als sie es taten? Hatte er die Namen verwendet, die er sonst nur mir gab? Wie hatte sich das angefühlt unter seinen Händen, die fremde Haut, knochige Stellen, wo ich glatt war? Hatte er …
Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, das Licht in meinem inneren Kinosaal einfach auszuknipsen. So schnell konnte sich das also ändern. Die halbe Nacht und den ganzen Vormittag hatte ich damit zugebracht, in einer Endlosschleife den Bildern von Jan und mir nachzuhängen, halb genussvoll, halb schuld bewusst, und halbherzig versucht, den Film endlich zu Ende zu bringen. Und dann hatte es plötzlich diesen Filmriss gegeben, und diese anderen Bilder waren mir aufgezwungen worden, die ich nie mit eigenen Augen gesehen hatte, die aber deshalb nur noch schlimmer waren. Jetzt konnte nur noch eins helfen: eine Fortsetzung meiner eigenen Geschichte. Episode zwei. Diesmal definitiv mit einer Altersfreigabe erst ab achtzehn. Garantiert ohne Schuldgefühle. Dafür mit einem Klecks süßer Rache. Plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge einen Kachelofen mit friesischen Mustern, und auf der Ofenbank Jan und mich, ineinander verkeilt und halb nackt. Wieder zuckte ich zusammen, diesmal vor Lust. Die Existenz der Hormone als Botenstoffe im menschlichen Körper war hiermit zweifelsfrei nachgewiesen. Und wenn Jan und ich auf der Ofenbank, nackt vor Omas Anrichte …
Ein Schlag vor die Stirn brachte mich wieder zur Besinnung. Ich taumelte zurück, während ich zugleich hektisch mit der Hand meine Jacke abtastete. Der Flyer, das Handy, mein Geld, alles da. Aber wo war mein Pfefferspray?
Jahrelang war ich mutig zu später Stunde durch Tiefgaragen gestapft. Und nun sollte es mich ausgerechnet in einer Seitenstraße von Boldsum-City treffen, am fast-noch-hellen Tag, zwischen Heckenrosen und Feldsteinmauer? Komplett unbewaffnet?
Ich blinzelte mehrmals, dann verstand ich. Der Angreifer war kein Angreifer, sondern eine der altmodischen Straßenlaternen. Ich konnte von Glück sagen, dass die schmiedeeisernen Schnörkel erst um Haaresbreite über meinem Kopf begannen und ich nur den Pfosten getroffen hatte.
Ich blinzelte ein weiteres Mal. Eine sanfte, irgendwie heimtückisch klingende Stimme säuselte in meinem Kopf so etwas wie »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, und ich brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass es die Dame vom Navi war. Die sanfte Domina von Sprecherin, die Torge und mich unerbittlich durch die Land schaft kommandierte. Bis heute hatte ich nicht gewusst, dass sie auch in meinem Kopf wohnte und nicht nur in unserem
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