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Friesenherz

Friesenherz

Titel: Friesenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janna Hagedorn
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ruhen.
    Wie lange ich so gestanden hatte, konnte ich hinterher nicht mehr sagen. Aber ich merkte es an meinen Füßen, dass es ziemlich lange gewesen sein musste. Die Kälte und Feuchtigkeit kroch durch die dünnen Sohlen, langsam und unaufhaltsam, und machte meine Zehen gefühllos. Weil meine Füße noch immer wie Bleigewichte an mir hingen, hatte es vermutlich noch länger gedauert, bis ich etwas davon spürte. Als ich die Treppe zur Straße wieder hinunterstieg, humpelte ich wie eine alte Frau, die ihren Rolla tor verloren hatte. Ein kleiner Vorgeschmack auf meine Zukunft, dachte ich bitter. Das also war es gewesen mit meinem Leben. Jetzt konnte ich mich endgültig in eine dieser tapferen Ü-40-Singles verwandeln, die ihre Esoterik-Wochenendseminare selbst bezahlten, nur noch ergonomische Bequemschuhe trugen und jeden Mor gen die richtige Körnermischung für ihre Schrotmühle auspendelten. Wenigstens würde mir Gelis Schicksal erspart bleiben. Torge und ich, wir würden niemals die gleichen Windjacken tragen. Es war vorbei mit den gemeinsamen Anschaffungen. Vielleicht war ja Ann eine Kandidatin für identische Sportkleidung. Schließlich lieh sie sich schon seit Tagen ungefragt meine Elastikbundho sen aus.
    Ich zog meinen Kragen etwas höher und bog schließlich in die Straße ein, in der das Hotel lag. Es half nichts, ich konnte ja nicht die ganze Nacht über die Insel wandern. Dabei dachte ich an Lisi Schleibingers gestriges Angebot. Ein Einzelzimmer. Darauf würde ich zurückgreifen, dann konnte ich mich auch daran gleich gewöhnen. Zwar würde ich nie mehr den Luxus genießen können, quer in einem Doppelbett zu schlafen, einen Luxus, den ich mir immer gern gegönnt hatte, wenn Torge auf Geschäftsreise war. Denn dass ich das Haus ganz allein behielt, kam nicht infrage. Dazu waren wir nun auch wieder nicht reich genug.
    Aber wenigstens würde mir auch keiner mehr die Ohren vollschnarchen.
    Ein trockenes Lachen stieg aus meiner Kehle hoch. Unglaub lich, wie dilettantisch Torge sein konnte! Um allein zu sein, schickte er mich ausgerechnet auf eine dieser Inseln, wo sich zu Ferienzeiten ganz Hamburg auf die Füße trat! Und hatte offensichtlich nicht daran gedacht, dass auch seine Geliebte dort sein könnte. Nein, nicht seine Geliebte. Sein One-Night-Stand. Zugegeben, es war nicht sehr wahrscheinlich. Aber auch nicht ausgeschlossen. Als Naturwissenschaftler hätte Torge eigentlich wissen müssen, wie man mit solchen Wahrscheinlichkeiten rechnete. Dann säße ich jetzt nicht auf Boldsum, sondern ein Stück weiter weg von Hamburg, auf Hiddensee oder auf Rügen, wo es mit Sicherheit auch Esoterik-Seminare für mittelalte Lehrerinnen gab. Und wüsste nichts davon, dass mein Leben hinter meinem Rücken in Scherben gegangen war.
    Aber wäre das besser gewesen?
    Ich betrat die Hotellobby. Niemand war hinter dem Empfangs tresen. Aus der Pesel-Bar drangen gedämpfte Stimmen zu mir herüber, jemand lachte. Das klang nach den Schätzen, aber ich konnte mich auch täuschen. Neben dem Tresen lag noch immer der Stapel mit den Flyern, auf denen Jans Foto prangte, und ich unterdrückte den Impuls, sie zu nehmen und alle miteinander umzudrehen. Wenn ich schon zum Altwerden gezwungen wurde, musste ich nicht auch noch gleich kindisch werden. Eben wollte ich die Messingglocke auf dem Tresen läuten, um jemand zu rufen, da sah ich aus dem Augenwinkel, dass ich doch nicht ganz allein war.
    Der flüchtige Blick genügte mir. Wenn man jemanden seit fast zwanzig Jahren kannte, reichte eine Bewegung, ein Halbprofil, um ihn zu erkennen, ja, sogar die Art, wie jemand aufstand, leicht federnd, und sich dann seine Hose glatt zog. Wie der klobige Ehering an der Lederkette beim Aufstehen vorschwang und dann wieder zurück. Wie er sich nervös mit Daumen und Zeigefinger die bärtigen Wangen rieb.
    Ich wäre gern wütend gewesen, hätte ihm die Szene gemacht, die er verdiente, ihm dramatisch meinen eigenen Ring vor die Füße geschleudert. Dumm nur, dass der zu Hause in Volksdorf lag, in meiner Nachttischschublade. Jetzt hätte ich ihn zur Abwechslung mal wirklich gebrauchen können.
    Aber als ich Torge da so stehen sah, so abwartend und ängstlich, wie er sich schief auf die Unterlippe biss wie ein kleiner Junge, da fühlte ich mich plötzlich einfach nur müde.
    »Was machst du denn plötzlich hier?«, fragte ich.
    Mein Mann seufzte tief, dann ging er einen zögernden Schritt auf mich zu. »Mein Gott, Mom«, sagte er leise. »Wir haben uns

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