Friesenherz
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Lisi legte wortlos zwei Zimmerschlüssel vor Torge und mich. »Aufzug ist da hinten, Frühstück gibt es …«, begann sie.
»Schon in Ordnung«, sagte ich, »wir kennen uns hier aus.« Dann griff ich nach einem der Schlüssel und wandte mich zum Gehen.
Torge fasste mich an der Schulter und hielt mich zurück. In der anderen Hand knetete er unglücklich seinen schweren Schlüsselanhänger.
»Du willst doch jetzt nicht einfach gehen!«, flehte er mich flüsternd an. »Ich bin doch gekommen … wir müssen doch reden!«
Ich nickte. »Ja. Vielleicht. Vielleicht morgen.«
Torge blickte zu Ann, aber die zuckte nur kleinlaut die Schultern. Jetzt wirkten sie nicht mehr wie meine Eltern. Eher wie meine Kinder, die sich gegenseitig in Schutz nahmen vor dem Zorn ihrer Mutter. Ich konnte nicht sagen, welche Rolle ich unangenehmer fand.
»Na dann«, sagte Torge und ging langsam los in Richtung Aufzug, so, als würde er erwarten, dass ich ihn meinerseits in letzter Sekunde zurückhielt. Da lief er, mein Mann, dieser lange Kerl mit den breiten Schultern und den großen Händen, der seine dicken Haare immer noch so kurz schneiden ließ, dass sie auf dem Kopf hochstanden, und aus dessen Bart ich morgens manchmal Brotkrümel zupfte. Dieser Mann, den ich schon nackt in- und auswendig gekannt hatte, als er noch keine Kräuselhaare auf den Schultern hatte, dessen Hände ich tausendmal auf dem Lenkrad unseres Autos gesehen hatte und dessen verschlafenes Lächeln jeden Morgen. Dem ich vor zwanzig Jahren gezeigt hatte, wie man eine ordentliche Bolognesesoße kochte, und vor zwei Jahren geholfen hatte, einen fleischfarbenen Stützstrumpf über das rechte Bein zu ziehen, nach seiner Venenoperation.
Bis vor einer Woche war ich sicher gewesen, dass es immer so weitergehen würde. Dass wir uns irgendwann gemeinsam Testberichte für Treppenlifte durchlesen würden und uns dabei über dem Rand unserer Lesebrillen freundliche Blicke zuwerfen würden. Dass wir uns eines Tages gemeinsam über ein Babybettchen beugen und versuchen würden, uns zu erinnern, wie wir Ronja beruhigt hatten, weil wir ihr versprochen hatten, dass wir sehr gut einen Abend auf unser Enkelkind aufpassen konnten.
Torge Johannsen, zweiundvierzig Jahre alt, Vater meiner Tochter. Der Mann, den ich geglaubt hatte zu kennen. So vertraut. So fremd.
Er sah traurig aus, wie er dahintrottete. Aber, und dieser Gedanke erwischte mich völlig unvorbereitet: Er sah auch aus wie ein Mann, den eine Frau begehren konnte.
Ein Mann, der Manns genug war, mit einer Frau zu schlafen, die nicht seine war. Aber vor allem ein Mann, der Manns genug war, vor den Folgen nicht davonzulaufen.
25
Der Strand sah aus wie aus einem Bildband über triste Urlaubs orte in der Nachsaison. Zwischen den Dünen hatte sich ein flacher Betonklotz breitgemacht, über dessen verschlossener Eingangstür zwei Neonschilder hingen, eine Brauereireklame und eines mit der Aufschrift »Zum Wattenlöper«. Rechts vor dem Eingang des Strandlokals waren mehrere Reihen von weißen Plastikstühlen auf gestapelt, um deren Füße verwelkte Blätter wirbelten. Links blinkte einsam ein roter Flugzeugautomat für Kinder vor sich hin. In regelmäßigen Abständen leuchteten die Buchstaben »Fun Ride« auf und verglommen wieder.
Schon vom Zusehen konnte man Mitleid bekommen, wie das Flugzeug da so vergebens nach einem Kind Ausschau hielt, Wochen und Monate nach dem Ende des Sommers. Einem Kind, das seine Mutter am Ärmel zerrte und bettelte, Mama, nur einmal, und noch einmal, und noch einmal. Dieser süße Schwindel im Bauch, diese wohlige Angst, wenn das Flugzeug an seinem langen Metallarm in die Höhe fuhr und sich dann im Kreis auf der Stelle drehte. Mama, nur 50 Cent.
Torge und ich saßen im Strandkorb, blickten auf den verlassenen Strandimbiss in den Dünen und ignorierten das Meer in unserem Rücken. Immer, wenn ich mich bewegte, quietschte das Rohrgeflecht. Ich zählte die Streifen. Rot, gelb, blau, grelle Siebziger-Jahre-Sommerfarben. Der Strandkorb hatte offen gestanden, als einziger. Wir hatten dort Platz genommen, ohne ein Wort zu wechseln, und stumm den Sand von der Sitzbank gewischt. Torge brach schließlich das Schweigen.
»Weißt du«, sagte er, »sie hat mich an dich erinnert.«
Ich wandte ihm ruckartig den Kopf zu, so sehr erschrak ich. Weniger über seine Worte, mehr über die Tatsache, dass er es wagte, als Erster zu sprechen. Nach einem stummen Frühstück, einem stummen Strandspaziergang, der
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