Friesenherz
Lehrerinnen eingehen sollte, entschied mich aber dagegen. Da stand ich drüber, meilenweit. »Eben«, sagte ich unerbittlich. »Also hast du dir einen Mann gesucht, der so aussieht, als könnte er ordentlich Unterhalt zahlen, und ihm ein Kind angehängt. Ein super Preis-Leistungs- Verhältnis.«
Torge legte beschwichtigend seine Hand auf meinen Unterarm. Ich zog den Arm weg. Was dachte der sich eigentlich? Der konnte mich doch nicht so einfach anfassen!
Er holte tief Luft. Dann begann er zu sprechen. Diesmal ließ ich ihn.
»Ich kann verstehen, dass du so denkst. Aber so war’s nicht. Es war … Es hatte etwas von einem Traum. Maike, wirklich, du musst mir glauben. In all den Jahren, seit ich dich kenne, ist mir so etwas nie passiert. Klar fand ich die eine oder andere Frau auch mal attraktiv, ich bin ja nicht aus Holz. Aber als ich Ann da stehen sah, die Bierflasche in der Hand, diese Art, wie sie lachte, wie sie mir zuprostete … Es war, als hätte jemand eine Kugel angeschubst, die dann einfach losrollte und nicht mehr zu stoppen war. Und offensichtlich ging es ihr ähnlich.«
Seine letzten Sätze klangen wie auswendig gelernt. Vielleicht waren sie das auch. Immerhin hatte er einen gewissen Vorsprung vor mir, was schlechtes Gewissen und Geständnisse anging. Er musste wochenlang überlegt haben, ob er mir etwas sagen sollte. Und wie.
Aber so leicht würde er mir nicht davonkommen.
»Ich übersetze das mal auf Deutsch«, sagte ich grimmig. »Zwanzig Jahre lang haben dich die Frauen nur gucken lassen. Endlich lässt dich eine ran, da kannst du natürlich nicht Nein sagen. Schade um die schöne Gelegenheit.«
Torge schüttelte den Kopf und zuckte verzweifelt die Schul tern.
»Was soll ich sagen«, flüsterte er, »ich bin eben auch nur ein Mann.«
»Genau«, pflichtete Ann ihm bei.
Ich funkelte sie wütend an. »Genau? Was soll das heißen, genau?«
»Ich wollte kein Kind. Ich wollte nur mal mit einem Mann schlafen.«
Jetzt war ich völlig verwirrt. Das Schamhaargestrüpp, die feministische Lyrik – hatte ich da etwas Entscheidendes nicht mitbekommen?
»Aber …«, stotterte ich, »ich dachte, du hattest auch vorher eine Beziehung … ich meine, eine Männerbeziehung …«
Erst stutzte Ann, dann musste sie lachen.
»Ach so, nein, das hast du falsch verstanden. Ich steh nicht auf Frauen, jedenfalls nicht sexuell. Ich treffe nur selten richtige Männer. Die, die mir begegnen, sind eigentlich alles große Jungs. Egal, wie alt sie sind.«
»Das passt ja«, sagte ich. »Und du bist ein großes Mädchen.«
Ich wartete, ob sie sich verteidigen würde. Ob sie aufspringen würde, aufstampfen, mir erklären, dass sie genauso erwachsen war wie ich. Aber das tat sie nicht. Sie stand sehr anmutig auf, strich sich den Rock mit dem Batikmuster glatt und blickte in Richtung Meer und Horizont.
»Es ist ein paar Jahre her«, sagte sie schließlich leise, »genauer gesagt, es war irgendwann in den frühen Neunzigern. Da war ich mal mit einer Gruppe von Kunststudenten in einem kleinen Klub auf dem Kiez. Diese Art von Sperrmüllklub, mit ausrangierten Sofas und unbetoniertem Boden. Draußen wurde es schon hell, es war die letzte Station auf unserer Tour, wir waren betrunken und müde, und ich fühlte mich wie aus der Zeit gefallen. Es war ziemlich leer, nur eine einzelne Frau war auf der Tanzfläche und bewegte sich. Sie hatte die Schuhe ausgezogen, war klein und pummelig, aber sie konnte sich total anmutig bewegen. Irgendwann drehte sie sich beim Tanzen um, und meine Freunde stießen sich an und kicherten. Die Frau war alt. Oder wenigstens das, was wir damals für alt hielten. Vierzig, fünfzig, das ist ja für Zwanzigjährige jenseits von Gut und Böse. Aber ich, ich fand das überhaupt nicht lustig. Ich habe mir damals gedacht: ja, genau. So will ich das auch machen. Einfach nicht aufhören zu tanzen. Einfach immer so weitermachen.«
Ich nickte. Das konnte ich nur zu gut verstehen. So ähnlich war es mir ja auch gegangen. Nur, dass irgendwann das Erwachsen werden dazwischengekommen war. Und Erwachsenwerden, das bedeutete, dass jemand in den Raum kam, die Musik abdrehte und einen aufforderte, endlich die Schuhe anzuziehen. Zu vernünftigen Zeiten zu schlafen, zu vernünftigen Zeiten zu feiern und nur noch dann zu tanzen, wenn andere Leute Hochzeit feierten. Leute, die im Zweifelsfall jünger waren als man selbst.
Ann blickte noch immer in die Ferne. Es war, als führte sie ein Selbstgespräch, als hätte sie
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