Friesenkinder
Trotzdem weckten natürlich derartige Spekulationen die Erinnerungen an jene Zeit.
»Vielleicht Versuchszwecke?« Marlene schluckte. Was hatten denn Hitlers Leute alles mit Menschen angestellt, die sie nicht sofort ermorden ließen? Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, was die Entführer mit dem Kleinen anstellen könnten. Und auch Haie wollte das Thema, mochte es vielleicht auch realistisch sein, nicht weiter vertiefen.
»Wollen wir heute Abend essen gehen?«, fragte er daher. Schließlich gingen sie oft zusammen abends in die Taverne in der Uhlebüller Dorfstraße. Aber Haie hatte irgendwie nicht nur den Umstand, dass das Lokal vor Kurzem überfallen und daher momentan geschlossen war, verdrängt, sondern auch, dass sich Toms und Marlenes Leben seit Niklas’ Geburt verändert hatte.
»Aber du kannst gern zu uns kommen und wir kochen zusammen?«
Haie nickte. »Vielleicht will Dirk ja auch dazukommen.«
18.
Obwohl sein Bauchgefühl und mehrere Indizien zweifelsfrei dafür sprachen, dass dieser Ole etwas auf dem Kerbholz hatte, konnte er ihm nichts nachweisen. Und einen Haft- oder Durchsuchungsbefehl bekam er mit diesen dürftigen Beweisen vom Staatsanwalt auf keinen Fall. Konnte er ja auch verstehen. Was hatte er schon? Ein Flugblatt, einen erpressten Mitarbeiter, der die Taten der Neonazis gedeckt, aber nie tief genug involviert war, um genügend gegen diese Kerle in der Hand zu haben. Dann mehrere Opfer, die aber nicht Anzeige erstatten wollten.
Er fuhr zurück in die Dienststelle. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Akten und vielleicht tat es ihm gut, wenn er sich mal ablenkte und mit anderen Sachen beschäftigte. Manchmal half es ja, ein wenig Distanz zu einem Fall zu bekommen.
Er unterschrieb mehrere Berichte, beantwortete dann einige Mails und führte ein Mitarbeitergespräch mit einem Beamten, der wiederholt zu spät zum Dienst erschienen war.
Als er gegen Mittag endlich einmal dazu kam, sich in Ruhe eine Tasse Kaffee zu gönnen, fühlte er sich ein wenig entspannter. Der Besuch bei Ole Lenhardt hatte ihn doch ziemlich aufgeregt.
Auch wenn er deutlich gespürt hatte, dass sowohl der Glatzkopf als auch seine Freundin etwas zu verbergen hatten, war natürlich nichts aus den beiden herauszubringen gewesen. Dazu war dieser Ole auch zu gewitzt und nachdem die schwangere Frau zugegeben hatte, bei Dr. Merizadi in Behandlung gewesen zu sein, und dafür einen stechenden Blick von Ole kassierte, hatte sie nur noch geschwiegen. Seine Fragen, warum sie ausgerechnet diesen Arzt ausgewählt hatte, ob sie weitere Patientinnen, vielleicht sogar Miriam Kuipers, kannte, deren Kind ja entführt worden war, hatte sie unbeantwortet gelassen.
Aber Marlene konnte durchaus recht haben, hatte er auf dem Rückweg gedacht. Irgendwie könnte es eine Verbindung zwischen der Entführung und dem Mord geben. Und wahrscheinlich lag der Schlüssel in der Praxis des Arztes. Schließlich liefen hier alle Fäden zusammen.
Er brachte die Akten zu seinen Mitarbeitern, rief anschließend bei den Husumer Kollegen an und erkundigte sich nach dem Stand der Ermittlungen im Entführungsfall. Leider gab es weiterhin keine Spur. Sie waren ein paar Hinweisen aufgrund des Phantombildes nachgegangen, aber die hatten sich alle als nutzlos erwiesen. Der Kleine schien wie vom Erdboden verschluckt.
Während er nach Leck in die Praxis von Dr. Merizadi fuhr, überlegte er, warum jemand auf die Idee kam, einen Säugling zu entführen. Um solch ein Verbrechen zu begehen, musste man doch einen Grund haben. An Muunbälkchen, die die Kinder holen, oder andere Geister aus alten Erzählungen glaubte er nämlich nicht. Was veranlasste einen Menschen dazu, fremde Babys zu klauen?
Wider Erwarten war die Praxis geöffnet. Im Wartezimmer saßen etliche Patientinnen, es herrschte Hochbetrieb.
Als Thamsen erstaunt nachfragte, erhielt er die Auskunft, dass ein befreundeter Arzt eingesprungen sei. Angeblich ging es nur um eine Grundversorgung und um Überweisungen an andere Praxen.
»Für eine Woche mache ich hier quasi die Abwicklung.«
»Aber will Frau Merizadi die Praxis nicht verkaufen?« Thamsen war erstaunt, denn für eine gut laufende Praxis würde sich sicherlich ein Nachfolger finden, der einen entsprechenden Preis zahlte.
»Nein, Nesrim will nicht, dass die Praxis weitergeführt wird.« Thamsen runzelte die Stirn.
»Ich kann das verstehen. Sie will damit abschließen. Dabei helfe ich ihr.«
»Aber wenn sie die Praxis verkauft,
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