Friesenrache
Nacken saß, wie er sich ihm gegenüber ausgedrückt hatte. Der Artikel verdeutlichte schnell, dass es der Polizei bisher nicht gelungen war, einen möglichen Täter zu ermitteln. Die Frage, wie sicher sich die Bewohner Nordfrieslands überhaupt noch fühlen konnten, wurde aufgeworfen. Man hatte dazu ein paar Leute aus RisumLindholm und den umliegenden Dörfern befragt und Aussagen wie: ›Wer weiß, wen der Maismörder sich als Nächstes holt?‹ und ›Da draußen in so 'nem Maisfeld, da hört dich ja auch keiner um Hilfe schreien.‹ abgedruckt.
Die Tatsache, dass Kalli Carstensen durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war und der Täter die Leiche nur im Maisfeld versteckt hatte, wurde im Text mit keiner Silbe erwähnt.
Thamsen wunderte sich. Ob sein Chef dies den Presseleuten verschwiegen hatte? Oder wollte der Verfasser des Zeitungsberichtes absichtlich die Angst der Leser schüren? Ein Bericht über einen mutmaßlichen Mörder, der frei herumlief, willkürlich Leute in ein Maisfeld zerrte und ermordete, war selbstverständlich weitaus sensationeller und ließ die Auflagenzahlen viel stärker in die Höhe schnellen als die profane Meldung eines Verkehrsunfalls.
Er legte die Zeitung zur Seite und blickte auf die Uhr.
»Anne!«, rief er dann, da die Zeiger stark auf acht Uhr zueilten, »bist du fertig?«
Er lieferte die Kinder vor der jeweiligen Schule in der Marktstraße ab und fuhr anschließend zur Dienststelle. Um neun Uhr war eine Besprechung mit den Kollegen von der Kripo aus Flensburg angesetzt. Vorher wollte er noch ein paar Telefonate führen.
»Und, war am Wochenende viel los?«, fragte er seinen Kollegen, als er den Gemeinschaftsraum be trat. Sein Gegenüber, der gerade an einer Tasse Kaffee nippte, schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Nicht wirklich. Ein paar Besoffene, Schlägerei, das Übliche halt. Außer dass wir den Sohn von Kalli Carstensen am Samstag festgenommen haben.«
Dirk Thamsen runzelte die Stirn.
»Hat total betrunken in der Gastwirtschaft im Dorf rumrandaliert«, beantwortete der Kollege seine unausgesprochene Frage.
»Und wo ist er jetzt?«
Der Polizist berichtete, dass sie Ulf Carstensen nach einer Nacht in der Zelle wieder laufen gelassen hatten.
»Dem hat der Tod des Vaters wohl ganz schön zugesetzt. Ist ja verständlich.«
Thamsen nickte, obwohl er die Erklärung für Ulf Carstensens Ausraster für zweifelhaft hielt. Ganz im Gegenteil. Der Sohn hatte kein gutes Haar an seinem Vater gelassen. Es hatte auf ihn eher gewirkt, als sei Ulf Carstensen sogar froh über das Ableben seines Erzeugers gewesen. Wieso also sollte er sich deshalb betrinken? Welchen Kummer hätte er betäuben sollen? Da steckte sicherlich etwas anderes dahinter. Er nahm sich vor, später noch einmal bei der Familie vorbeizufahren. Er musste sowieso nach RisumLindholm, da die Befragung der beiden Stammtischbrüder noch ausstand. Jetzt aber musste er sich erst einmal beeilen, um nicht zu spät zu der Besprechung zu kommen.
*
Auch Haie hatte am Morgen den Bericht über Kalli Carstensen in der Zeitung gelesen. Weiter hinten in dem Nachrichtenblatt war er dann auf die Traueranzeige gestoßen. Für gewöhnlich wurden diese nur in der Mittwoch- und Samstagsausgabe abgedruckt, aber in diesem Fall gab es wohl eine Ausnahme.
In tiefer Trauer und mit Unverständnis nehmen wir Abschied von unserem lieben Ehemann und Vater.
Unter dem Sterbedatum und der Ankündigung der Trauerfeier für den kommenden Donnerstag standen die Namen von Sophie und Ulf Carstensen. Weitere Verwandte oder Freunde hatten sich der Trauerbekundung nicht angeschlossen. Haie trank seinen Kaffee aus und faltete die Zeitung zusammen. Er war mit Tom und Marlene verabredet. Sie wollten nach Niebüll fahren und Kommissar Thamsen von ihrem Treffen mit Barne Christiansen berichten.
Im Flur griff er nach den Haustürschlüsseln, die er gestern Abend zusammen mit dem Prospekt vom ›Nolde-Museum‹ auf die Kommode gelegt hatte. Es war ein seltsamer Nachmittag gewesen. Schweigend und mit ziemlich gedrückter Stimmung waren sie nach Seebüll gefahren. Er ging davon aus, dass auch Marlene Tom durchschaute. Ihr Blick hatte keine Zweifel über die Fragen aufkommen lassen, die ihr durch den Kopf schwirrten. Was war los mit Tom? Verheimlich te er etwas?
In einem der Ausstellungsräume hatte er den Freund dann zur Seite genommen und ihn gefragt, was Sache sei. Tom hatte so getan,
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