Friesenrache
beiden Freunde hatten den eigentlichen Anlass ihres Besuches beinahe vergessen. Zu groß war ihre Neugierde über den Stand der Ermittlungen, insbesondere in Bezug auf das vorangegangene Verhör.
»Wir haben von Sophie Carstensens Selbstmord gehört«, erklärte Haie und machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr. »Im Dorf vermutet man, die Witwe habe sich wegen ihrer häuslichen Situation das Leben genommen.«
Thamsen nickte. Er konnte sich sehr gut vorstellen, welche Gerüchte in dem kleinen Ort wieder im Umlauf waren.
»Wir wissen bereits, dass Kalli Carstensen seine Frau misshandelt hat. Der Sohn hat es uns bestätigt.«
Enttäuschung machte sich auf den Gesichtern seiner Besucher breit. Offenbar waren sie davon ausgegangen, dass der Polizei dieser Umstand noch nicht bekannt war.
»Ach so«, entgegnete der Hausmeister etwas niedergeschlagen, als ihm bewusst wurde, nicht in Besitz exklusiver Hinweise zu sein. »Dann haben Sie vorhin also Ulf Carstensen verhört? Hat er denn gestanden?«
»Nein.«
»Nein?« Die beiden Freunde blickten sich überrascht an. Sie hatten den Sohn ebenfalls als Mörder in Betracht gezogen. Immerhin hatte er ein starkes Motiv. Wer sonst hatte ein solch eindeutiges Interesse an Kalli Carstensens Tod gehabt?
*
Irmtraud Carstensen öffnete die Tür und war erstaunt, als sie ihren Neffen mit hängenden Schultern und niedergeschlagenem Blick auf der Schwelle stehen sah. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Ulf sich in dieser Situation an sie wenden würde.
»Komm rein«, bat sie den jungen Mann und umarmte ihn flüchtig.
Sie kochte erst einmal einen starken Kaffee, ehe sie sich zu ihm an den Küchentisch gesellte. Geduldig wartete sie, bis er den Grund seines Besuches nannte.
»Sie verdächtigen mich.«
»Was?« Irmtraud Carstensen war empört. Nicht genug, dass die Polizei zunächst ihren Mann des Mordes an seinem Bruder beschuldigte, nun hatten sie auch noch den Sohn des Opfers im Visier. Sie ließ ihrem Ärger freien Lauf.
»Das ist ja ungeheuerlich! Die sollen sich lieber darauf konzentrieren, den wahren Mörder zu finden, statt sämtliche Familienangehörige der Reihe nach zu beschuldigen. Immerhin läuft der Täter noch frei herum.« Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, um ihrer Entrüstung mehr Ausdruck zu verleihen. Doch Ulf Carstensen nahm die ihn verteidigenden Worte seiner Tante gar nicht wahr. Wie ein Häufchen Elend saß er auf der Eckbank und starrte in den vor ihm stehenden Kaffeebecher, aus dem kleine Dampfwolken aufstiegen.
»Mama hat auch gedacht, dass ich Papa umgebracht habe.«
Irmtraud Carstensen schaute zweifelnd auf. Sie konnte nicht glauben, was ihr Neffe gerade von sich gegeben hatte.
»Woher willst du das wissen?«
Ohne ein weiteres Wort holte Ulf Carstensen den
zusammengefalteten Brief aus seiner Hosentasche und schob den Zettel seiner Tante zu.
»Heißt das, dein Vater hat …?«, fragte sie ungläubig, nachdem sie die letzten Zeilen ihrer Schwägerin gelesen hatte.
»Ja, sag bloß, du wusstest das nicht?«
Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie nichts von den Misshandlungen gewusst hatte. Beinahe jeder im Dorf hatte zumindest vermutet, sein Vater würde die eigene Frau schlagen. Er hatte die Leute doch auch reden hören. Dass seine Tante davon nichts gewusst haben wollte, kaufte er ihr nicht ab.
Doch Irmtraud Carstensen bestritt vehement, auch nur die leiseste Ahnung von den Qualen der Schwägerin gehabt zu haben.
»Wir hatten ja schon seit Jahren so gut wie keinen Kontakt mehr«, versuchte sie ihre Unwissenheit zu erklären.
»Aber Onkel Friedhelm hat Papa doch darauf angesprochen. Mehrere Male. Ich habe es selbst gehört!«
Plötzlich fiel es Irmtraud Carstensen wie Schuppen von den Augen. Deshalb hatte ihr Mann den Kontakt zu seinem Bruder immer mehr eingestellt. Die Besuche reduziert, Ausreden erfunden, warum man die Verwandtschaft nicht einladen konnte. Es war gar nicht nur um irgendwelche Streitigkeiten der beiden Brüder, das Erbe und die Tradition gegangen; nicht ums Geld oder das Ansehen der Familie. Friedhelm hatte gewusst, dass Kalli seine Frau misshandelte, und versucht zu helfen, dem Bruder ins Gewissen geredet. Doch der hatte sich natürlich nichts sagen lassen, wollte ja sowieso nie einen Rat oder Hilfe annehmen. Wie ohnmächtig musste ihr Mann sich gefühlt haben? Ein Versager, der nicht in der Lage war, seiner Schwägerin
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