Friesenrache
im Gegensatz zu Hamburg war. Nur das Rauschen des Windes in den Blättern über ihr, das zur Musik der Stille wurde.
Ein Motorengeräusch ließ sie erschrocken auffahren. Sie musste eingeschlafen sein. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es bereits nach 17 Uhr war. Die Sonne war längst weiter gezogen und verschwand langsam am Horizont. Sie fröstelte.
Das gleichmäßige Brummen des sich nähernden Wagens verstummte, und augenblicklich wusste sie, dass Tom nach Hause gekommen war. Sie stand auf und fuhr sich hektisch durch ihr langes, blondes Haar. Viel Zeit blieb ihr nicht, sich auf die Begegnung einzustellen, denn schon vernahm sie Stimmen, die sich näherten.
»Marlene!«, rief Haie erfreut zur Begrüßung und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zugestürmt. Tom folgte dem Freund zögernd. Sein Herz hatte zwar einen Freudenhüpfer gemacht, als er Marlenes Auto vor dem Haus hatte stehen sehen, und er hatte es kaum erwarten können, ihr zu begegnen, doch nun, da er ihr gegenüberstand, wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. War sie seinetwegen gekommen oder nur, weil Haie sie darum gebeten hatte? Verlegen blickte er zu Boden, während die beiden Freunde sich zur Begrüßung umarmten.
»Na, dann will ich euch erst einmal allein lassen«, sagte der Freund, nachdem sich Marlene aus seiner Umarmung gelöst hatte, und zwinkerte Tom zu. Haie sah in ihrem Kommen ein gutes Zeichen.
»Aber willst du nicht erst einmal erzählen, was passiert ist? Immerhin gibt es eine weitere Leiche«, bemühte Marlene sich eilig, ihn zum Bleiben zu bewegen. Sie fürchtete sich ein wenig davor, mit Tom allein zu sein.
»Das kann Tom dir auch alles erzählen. Ich muss zur Schule«, behauptete Haie. Seiner Ansicht nach war es das Beste, wenn die beiden sich zunächst aussprachen und ihre eigenen Probleme lösten, anstatt sich in die Ermittlungen des Mordfalls zu flüchten.
Er winkte ihnen zum Abschied kurz zu und lief anschließend los.
Tom und Marlene sahen dem Freund schweigend nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
»Wollen wir reingehen?« Sie drehte sich zu ihm um. Er nickte stumm und folgte ihr ins Haus.
Im Flur fiel sein Blick auf ihre noch nicht ausgepackte Reisetasche. Hat sie noch keine Zeit gefunden, ihre Sachen auszuräumen, oder wartet sie auf ein Zeichen von mir, fragte Tom sich beim Anblick der Tasche, und schlagartig wurde ihm klar, dass es einzig und allein von ihm abhing, ob Marlene bleiben würde. Er spürte, wie sein Herz noch schneller zu schlagen begann. Angst schnürte ihm die Kehle zu.
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte er mit belegter Stimme.
In der Küche holte er zwei Gläser aus dem Schrank und mixte eine Apfelschorle. Mit Erstaunen bemerkte Marlene, wie sehr seine Hand zitterte, als er das Getränk vor ihr auf den Tisch stellte. Sie betrachtete eingehend sein Gesicht. Er sah müde aus, so als habe er die letzten Nächte kaum geschlafen. Wahrscheinlich war es ihm ähnlich wie ihr ergangen, denn auch unter ihren Augen lagen dunkle Ringe, nur sie konnte diese unter etwas Make-up und Puder verstecken.
Sie nahm einen Schluck von der Schorle und erzählte, dass sie im Garten jede Menge Äpfel gepflückt hatte. »Vielleicht kann man aus einem Teil auch Apfelsaft machen«, schlug sie vor. Sie benutzte absichtlich das Wort ›man‹ anstelle von ›wir‹ oder ›ich‹. Schließlich wusste sie nicht, ob es ein ›wir‹ überhaupt noch gab, beziehungsweise ob es in Toms zukünftigen Leben noch einen Platz für sie geben würde.
Durch oberflächliches Geplänkel über den Garten und das Wetter versuchte sie den Zeitpunkt, an dem sie darüber Klarheit erlangen würde, möglichst lange hinauszuzögern.
Tom deutete ihre belanglosen Äußerungen als kein gutes Zeichen. Er ahnte nicht, dass Marlene zwischenzeitlich ebenso viel Angst hatte wie er. Auch sie fürchtete, ihre Beziehung könnte nicht mehr zu retten sein.
Doch der allgemeine Gesprächsstoff war verhältnismäßig schnell ausgeschöpft, und ein unbehagliches Schweigen machte sich in der kleinen Küche breit.
Marlene starrte angestrengt auf ihre Fingernägel, während Tom seinen Blick aus dem Fenster gerichtet hatte und scheinbar interessiert eine Amsel beobachtete, die zwischen dem Fallobst unter dem Apfelbaum nach Insekten Ausschau hielt.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie nach einer Weile, als ihr die Stille unerträglich
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