Friesenrache
zu helfen, weil er sich nicht gegen seinen Bruder durchsetzen konnte. Stattdessen hatte er wieder einmal klein beigegeben, die brutalen Zustände in der Familie seines Bruders verschwiegen und sich von ihnen distanziert. Höchstwahrscheinlich gab es noch weitere Punkte, die das schlechte Verhältnis der beiden begründet hatten, aber Kallis gewalttätige Ausbrüche gegenüber seiner Frau waren sicherlich der Hauptgrund für Friedhelms Hass auf seinen Bruder. Und da er sich gegen den anderen nicht hatte behaupten können, nicht einmal in dieser brisanten Angelegenheit, in der es um die Misshandlung einer Familienangehörigen gegangen war, hatte er …
Irmtraud Carstensen schluckte, als ihr bewusst wurde, welch starkes Motiv ihr Mann gehabt hatte, den eigenen Bruder zu töten.
Toms Wagen stand nicht vor dem Haus, und Marlene atmete erleichtert auf. Trotzdem blieb sie kurz im Auto sitzen und blickte auf das Haus, ehe sie zögernd ausstieg.
Ihre Tasche stellte sie zunächst einmal im Flur ab. Sie wusste ja nicht, ob sie bleiben würde, oder besser gesagt: bleiben durfte. Schließlich hatte Tom sich bei ihr in den letzten Tagen nicht wirklich gemeldet. Er hatte zwar ein paar Mal versucht sie zu erreichen, jedoch keinerlei Nachricht hinterlassen. Diesen Umstand wertete sie eher als schlechtes Zeichen. Vielleicht hatte er ihr nicht auf die Mailbox sprechen wollen, dass er ihr Verhalten unmöglich fand und sich fragte, ob es für ihre Beziehung unter diesen Voraussetzungen überhaupt eine Zukunft gab.
Als sie jedoch die Haustür aufgeschlossen und die Wohnung betreten hatte, waren ihre Zweifel ein Stück weit in den Hintergrund gerückt. Ihr liebevoll eingerichtetes Zuhause empfing sie mit offenen Armen, und sofort war ihr ein klein wenig wohler zumute. Anfangs war es ihr schwergefallen, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen, und es hatte einige Zeit gedauert, bis sie sich in dem alten und renovierungsbedürftigen Haus heimisch fühlte. Mittlerweile konnte sie sich jedoch beinahe gar nicht mehr vorstellen, irgendwo anders zu leben.
Sie seufzte laut, als ihr bewusst wurde, durch ihre heftige Reaktion auf den Anruf von Toms Exfreundin dies alles aufs Spiel gesetzt zu haben.
In der Küche brühte sie sich einen Tee auf und setzte sich an den Küchentisch. Der vertraute Blick aus dem Fenster wirkte beruhigend auf sie. Über den Hofplatz konnte man in den Garten schauen. Der riesige Apfelbaum hing voll reifer Früchte, die nur darauf warteten, geerntet zu werden. An der hölzernen Gartenlaube lehnte der Apfelpflücker.
Marlene trank ihren Tee aus und stand auf. Im hinteren Hausflur schlüpfte sie in ihre Gummistiefel und zog sich eine alte Jacke an, die sie extra für die Gartenarbeit ausrangiert hatte.
Die rotbäckigen Äpfel lachten sie geradezu an, als sie mit dem Erntegerät nach ihnen langte. Schnell füllte sich der Korb zu ihren Füßen mit dem reifen Obst. Nach etwa einer Stunde hatte sie alle Früchte gepflückt, die ohne eine Leiter erreichbar waren. Doch in den oberen Ästen hingen noch eine Menge weiterer Äpfel.
Riese müsste man sein, dachte Marlene und grinste bei der Vorstellung, wie sie sich bücken musste, um die kleinen runden Obststücke zu ihren Füßen einzusammeln. Früher sollte es ja tatsächlich Riesen in diesem Landstrich gegeben haben. Im Institut hatte sie einige Sagen über diese übergroße Menschengattung gelesen. Der weiseste und beste Riese in ganz Nordfriesland sollte Bolder gewesen sein. Er hatte der Sage nach Boldixum, einen eher ländlichen Stadtteil von Wyk, erbaut. An viel mehr Details der Sage konnte sie sich allerdings nicht mehr erinnern. Nur, dass Bolder wohl mit Nanna, dem schönsten friesischen Mädchen, verheiratet gewesen und es um irgendwelche Beziehungsgeschichten gegangen war, als plötzlich ein Nebenbuhler auf der Bildfläche erschienen war.
Marlene legte den Pflücker ins Gras und ließ sich auf der weißen Friesenbank unter dem Apfelbaum nieder, die Tom vor Kurzem von einem Geschäftspartner als Dankeschön für seine hervorragende Beratung geschenkt bekommen hatte. Erst jetzt machte sich die ungewohnte Anstrengung in ihren Gliedern bemerkbar. Ihre Arme schmerzten leicht, in ihrer rechten Handfläche wuchs eine Blase phänomenalen Ausmaßes.
Sie legte den Kopf in den Nacken und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Die letzten Strahlen der Herbstsonne wärmten angenehm, Marlene schloss die Augen und dachte, wie ruhig es hier doch
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