Friesenschnee
eigentlich alles. Sie konnte nicht mehr alleine in der Wohnung sein. Sie hat sich oft in eine Ecke verdrückt und mit den Spielsachen ihrer kleinen Schwester gespielt, obwohl sie eigentlich viel zu alt dafür war. Sie war dann in ihre eigene Welt versunken, und wir kamen nicht mehr an sie heran.«
»Sie ist dann aber irgendwann ausgezogen, in die Hansastraße, richtig?« Das bestätigte Kramer. »Richtig, zu Beginn ihres Studiums ist Kerstin mit ihrer Freundin Claudia zusammengezogen. Das ging auch eine ganze Zeit gut. Wir dachten schon, dass Kerstin sich wieder fangen würde. Dann hat Claudia einen Mann kennengelernt und ist mit ihm weggezogen. Danach habe ich viel Ärger mit Kerstin gehabt.«
Kommissar Hansen zog fragend die Augenbrauen hoch, und Kramer erzählte weiter. »Ja, richtigen Ärger. Sie konnte seitdem nicht mehr alleine sein. Sie hat sich viel mit wildfremden Männern herumgetrieben. Ich habe sie öfter aufgesucht und die Kerle aus ihrer Wohnung rausgeschmissen. Sie war anscheinend nicht besonders wählerisch. Das besserte sich erst, seitdem sie Jock hatte.«
Hansen war erstaunt, wie offen Kramer über seine Tochter sprach. »Sie waren deswegen enttäuscht von Ihrer Tochter?«
»Enttäuscht? Nein. Wissen Sie, man kann doch nie in einen Menschen ganz hineingucken, nicht einmal in die eigenen Kinder.«
»Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Tochter Drogen genommen hat?«
Kramer schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das hätte ich bemerkt. Natürlich ist es ungewöhnlich, wenn der eigene Vater bei der volljährigen Tochter aufräumt. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass ich ihr noch etwas schuldig bin. Ich habe es immer gut mit ihr gemeint und sie geliebt, auch wenn ich vielleicht nicht alles richtig bei meiner Erziehung gemacht habe. Das habe ich ihr gestern gesagt.«
Hansen nickte anerkennend. »Hut ab, Kollege Kramer. Manche Väter bekommen so etwas nie über die Lippen.«
Doch Kramer wehrte ab. »Ich hätte es ihr vielleicht eher schon einmal sagen sollen, um ihr Mut zu machen. Sie dachte wohl immer, dass wir sie nach dem Tod unserer Lütten nicht mehr lieben würden. Vielleicht ist es jetzt zu spät. Ich habe Angst, dass sie sich noch mehr in ihre eigene Welt flüchtet. Wenn Sie mir nur einen Gefallen tun können, Kommissar, dann lassen Sie das Mädel erst einmal in Ruhe. Ich habe kein gutes Gefühl.«
Das hatte Hansen auch nicht, aber er ließ es sich nicht anmerken. »Verlassen Sie sich darauf, Kollege. Wir bekommen den Täter, notfalls auch ohne die Aussage Ihrer Tochter. Kopf hoch.«
Kramer nickte zum Dank.
Kommissar Hansen wechselte das Thema. »Und wann geht es wieder in den Dienst?«
Kramer zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Zurzeit bin ich noch beurlaubt, zum Glück bei vollen Bezügen. Normal muss man mit vier Wochen rechnen, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Viel mehr als eine Ermahnung wird dabei hoffentlich nicht herauskommen. Eigentlich passt mir das ganz gut, so kann ich diese Zeit auf meine Art ganz nah bei Kerstin sein.«
Dann hat das Ganze auch etwas Gutes, dachte sich Hansen und nickte zustimmend. »Ihre Frau ist zur Arbeit?«
Kramer schwieg eine Zeit lang, bis seine heisere Stimme das Wort formte, welches er vermutlich nicht so gerne in den Mund nahm. »Durchgebrannt.« Erst kurze Zeit später folgte eine knappe Erläuterung. »Bereits vor zwei Jahren. Ich habe doch außer Kerstin niemanden.«
Hansen entschied sich, es bei einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter zu belassen. Mit welchen Worten hätte er den armen Teufel schon trösten können?
Den kalten Kaffee ließ Hansen stehen.
Glaube, Liebe, Hoffnung
Die Fahrt mit dem alten Golf in den äußersten Südwesten der Insel Föhr nach Utersum verlief nicht besonders spektakulär. Bewaldete Flächen gab es kaum, und die kleinen Orte am Wegesrand auf der Fahrt über den flachen Geestrücken wirkten tief im Schlaf versunken. Utersum entpuppte sich schließlich als ein Friesendorf, in dem Reetdachhäuser das Ortsbild bestimmten. Schnell fand er die Straße zum Runghof, und wenig später parkte er nach dem Passieren von drei Hünengräbern vor Angelikas imposantem Anwesen.
Das flaue Gefühl im Magen behagte Stuhr überhaupt nicht, als er den vergoldeten Klingelknopf der reetgedeckten Villa drückte, denn einen richtigen Plan, wie er Angelika begegnen wollte, den hatte er nicht. Er würde das Gespräch mit ihr in aller Ruhe führen, und wenn er seinen Seelenfrieden
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