Friesenwut - Kriminalroman
Und: »Warum hast du mir das angetan?«
9
»Irgendetwas an
dieser Geschichte gibt mir zu denken. Ich weiß nur noch nicht, was.« Ulfert
Ulferts saß an seinem Schreibtisch der Auricher Kripo und sinnierte über den
bisher gesammelten Dokumenten zu den beiden Unfällen. Er fragte die blonde
Frau, die neben ihm stand: »Was meinst du?«
»Bleib mir weg mit deinen
Unfällen. Ich habe genug um die Ohren. Außerdem ist die Sache ziemlich klar.«
Tanja Itzenga, die aus dem Nebenzimmer kam, lehnte sich an Ulferts’
Schreibtisch.
»Du als Hauptkommissarin solltest
etwas kritischer sein«, antwortete Ulferts, »und nicht gleich die naheliegende
Erklärung für bare Münze nehmen.«
»Wieso nicht? Manchmal sind die
Fälle gar nicht so kompliziert gestrickt. Sieh doch mal: früh morgens, in der
Gegend, auf der Strecke. Eine Frau liegt verletzt im Straßengraben,
Bremsspuren, zwei Kilometer weiter ein zertrümmerter Wagen und ein
angetrunkener Fahrer. Es ist sonnenklar: Freya Reemts fährt nachts mit dem Rad
nach Hause und wird von dem Besoffenen angefahren. Die Spusi wird sicherlich
entsprechende Hinweise finden. Der Autofahrer hat’s bemerkt, begeht
Fahrerflucht, gibt Gas, verliert die Kontrolle und – peng – knallt
auf der anderen Seite in den Graben und gegen den Baum.«
»Rumpbump, Koarr över’t Kopp und
aal kött …«, meinte Ulferts, etwas geistesabwesend.
»Bitte?«
»Ach, nichts. Musste an einen
alten Witz denken, den Hannes Flesner auf Platt erzählte: Zwei Männer
überschlagen sich mit dem Auto, weil sie einen zu viel zur Brust genommen
haben. Und als der Fahrer seinen Nebenmann fragt: ›Hesst du wat offkregen?‹,
antwortet der: ›Nee, hett denn jemand een utdohn?‹«
»Und wo ist der Witz?«
»Oh Mann, Tanja, es wird Zeit,
dass du richtig Plattdeutsch lernst! ›Hast du was abgekriegt?‹ ›Nee, hat denn
jemand einen ausgegeben?‹ Kapiert?«
»Nun ist die Pointe dahin.
Eigentlich ist mir im Moment sowieso nicht nach Witzen zumute. Liegt
wahrscheinlich an unserem Beruf.«
»Na ja, so witzig ist das alles
nicht, hast recht. Weißt du, diese Unfälle, gleich zwei auf einmal, an dieser
Landstraße, so nah beieinander … Klar, klingt alles ganz logisch, ich habe
dennoch das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Die Erklärung ist zu einfach,
so … gradlinig.«
»Das wäre das erste Mal, mein
lieber Ulfert, dass ausgerechnet du dich auf dein Gefühl verlässt. Wie oft
musste ich mir schon anhören: ›Frau Hauptkommissarin, wir ermitteln hier, wir
brauchen Fakten, Beweise. Keine Gefühle!‹ Und jetzt kommst du mir mit
Gefühlsduselei? Ich habe geglaubt, Männer denken nach, Frauen folgen ihrem
Gefühl?« Tanja Itzenga schaute verächtlich drein.
»Tanja, ich mein’ das doch gar
nicht so.«
»Du kennst ja unser
Geschäft – nur Beweise zählen.«
»Kann man mit dir reden? So von
Mann zu Frau? Du als Kommissarin solltest misstrauisch werden, wenn dein
Mitarbeiter, ein Mann, sagt, er habe das Gefühl, es stimme etwas nicht.«
»Ulfert, ich kenne und schätze
dich. Aber mal ehrlich: Für mich ist das wirklich ziemlich klar. Und der Fall
hat deshalb nichts bei uns in der Mordkommission zu suchen. Gib die Sache
weiter an die zuständigen Kollegen. Ich brauche dich für andere Fälle. Für den
in Moordorf, zum Beispiel. Dort gab es eine Messerstecherei … Aber gut: Ich
gebe dir noch diesen Nachmittag Zeit zum Grübeln. Wenn du mir morgen früh nicht
etwas bringst, was mehr Beweiskraft hat als dein Gefühl, wird der ganze Fall
schnellstens unsere Abteilung verlassen und du übergibst ihn den Kollegen. Okay?«
»Du bist die Chefin«, versicherte
Ulferts, stand auf und ging zur Kaffeemaschine. Er drehte einen ursprünglich
weißen, oft gebrauchten und mittlerweile angebräunten Becher um und schüttete
die braune Brühe hinein.
»Auch einen?«, fragte er seine
Kollegin.
»Danke. Habe eben Tee getrunken.«
»Mag wohl besser sein.« Ulferts
kehrte an den Schreibtisch zurück und sah die Unterlagen durch. Er wurde das
Gefühl nicht los, dass irgendwo in den Dokumenten ein wichtiger Hinweis
steckte, den bisher niemand entdeckt hatte. Es standen jedoch allerhand
Analysen aus. Deren Ergebnisse musste er noch abwarten.
Predigte nicht er – gerade
er – immer wieder: ›Gefühle sind das Eine, Fakten das Andere‹?
10
Nicht weit entfernt
vom Hof Meinhard Harms’ wirtschaftete seit wenigen Jahren Marten Sommer. Er
lebte allein, ein Single-Hof sozusagen. Er
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