Frikassee zum Frühstück (ISAR 2066) (German Edition)
weiten Overall aus, der mich aus leblosen Augen anstarrt. Gerade will ich das Wort an die bemitleidenswerte Gestalt richten, da erschallt eine weibliche Stimme durch den Gang: „Gehen Sie bitte weiter bis zum Ende. Ich erwarte Sie hinter Tür Numero 2.“
Ich nicke und setze meinen Weg fort. Am Ende des Ganges gehen mehrere Türen ab und als ich durch die 2 treten will, gleitet diese zur Seite und die Sonne geht auf. Gleichzeitig schallt mir ohrenbetäubender Lärm entgegen. Vor mir steht ein Engel. Weiblich, mit langem blonden Haar – zweifellos Transplantate – und weißem Lächeln.
„Willkommen in den Hacker-Kliniken.“ Wie zu erwarten war, ist ihre Stimme glockenhell. „Was kann ich für Sie tun?“
„Guten Tag. Mein Name ist Lucio Verdict.“ Ich setze ein charmantes Lächeln auf und streiche über das Revers meiner offenkundig teuren Jacke. „Mein Vater geht demnächst in den wohlverdienten Ruhestand …“
Das Lächeln wird noch weißer. „Ich verstehe.“
„Ich habe viel Gutes über Ihr Etablissement gehört“, säusele ich. „Vor allem bewundere ich Ihre soziale Haltung. Im Unterschied zu anderen Einrichtungen dieser Art nehmen Sie die Menschen nicht aus. Das weiß ich sehr zu schätzen.“
„Das ist richtig.“ In einer eleganten Kopfbewegung wirft die Blondine ihre Haare zurück. „Nur wir bieten Ihnen ein faires Preis-Leistungs-Verhältnis.“
„Gut.“ Ich räuspere mich. „Ich liebe meinen Vater sehr, aber mehr als 800 Eurodollar pro Monat kann ich nicht erübrigen.“ Noch einmal streiche ich mir übers Revers. Die Blondine soll das einzig richtige Bild von mir bekommen. „Ich habe einen gewissen Lebensstil, den ich nicht so einfach aufgeben kann.“
Der weiße Engel beugt sich vor und gewährt mir einen Blick in sein Dekolletee. „Dafür habe ich vollstes Verständnis. Schließlich lebt man nur einmal.“
Ich seufze hörbar erleichtert. „Endlich jemand, der mich versteht.“
„Aber natürlich tue ich das.“ Der Ausdruck in ihren blauen Augen zielt eindeutig tiefer ab als auf mein Gesicht und ich gebe mich geschmeichelt.
„Wunderbar. Doch bevor ich meinen alten Herrn herbringe, würde ich mir gern die Räumlichkeiten anschauen. Er war zwar nicht immer das, was man einen guten Vater nennt …“ Ich mache eine kurze, vielsagende Pause. „Aber er soll bekommen, was ihm zusteht.“
Die strahlende Erscheinung zieht einen Schmollmund, was ihrer Schönheit keinen Abbruch tut. „Das ist eher unkonventionell. Normalerweise geht das nur mit Voranmeldung.“
Jetzt bin ich derjenige, der sich vorbeugt. „Ach kommen Sie“, hauche ich ihr ins Ohr. „Tun Sie mir diesen kleinen Gefallen. Ich bin ein sehr vielbeschäftigter Mann und würde das gern hinter mich bringen.“
Ein leises Gurren ist die Folge. „Na gut. Folgen Sie mir.“
„Dankeschön.“ In meiner Stimme hat sich ein samtiges Timbre eingeschlichen. „Wie heißen Sie eigentlich?“
„Amber.“
„Amber“, wiederhole ich verträumt. „Wunderschöner Name. Er passt zu Ihnen.“
„Danke sehr.“ Sie lacht laut auf, dann gewährt sie mir einen Blick auf ihr wohlgeformtes Hinterteil. „Folgen Sie mir.“
Wir betreten das Foyer. Eine riesige Glas- und Stahlkonstruktion, in dem ein Tohuwabohu herrscht. Halbnackte Akrobaten springen und hüpfen herum, vollführen wilde Pirouetten und jonglieren mit bunten Bällen, während ein Zauberkünstler im Frack ein Kaninchen nach dem anderen aus dem Hut zieht. Ein Weihnachtsmann mit roter Nase ruft „Ho-ho-ho!“ und überreicht einer sitzenden Gestalt ein Päckchen, das ihr von einem Spaßvogel im Flickenkostüm wieder abgenommen wird, sobald sie freudig in die Hände klatscht. Als die Gestalt mutlos in sich zusammensackt, überreicht ihr der Weihnachtsmann erneut das Päckchen und das Spiel geht von vorne los.
Ein Clown auf Stelzen kreuzt unseren Weg und entlockt dem weißen Engel vor mir ein helles Lachen. Die Alten indessen – optisch nicht mehr als amorphe Faltensäcke mit zu großen Ohren – lassen diesen Irrsinn stoisch über sich ergehen.
„Alles Geschenke von Verwandten“, verkündet der Engel mit einem breiten Lächeln. „Damit sich unsere Gäste nicht langweilen.“
„Sehr schön.“
Wir durchqueren den Raum. Auf einem riesigen Multi-Screen flimmern stumme Bilder, während aus den Lauschsprechern eine Polka ertönt, die mit dem mehrstimmigen Geschrei rundum einen dissonanten Kanon
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