Frisch geküsst, ist halb gewonnen
wenn es dabei nicht um Sex gegangen war. Was, wo sie jetzt so darüber nachdachte, eigentlich schade war. „Er ist ein Freund“, fing sie an.
Rita lachte. „Worte, die jeder Mann gerne hört. Wenn du dich entscheidest, ihn abzuweisen, schick ihn zu mir.“
„Du bist glücklich verheiratet.“
„Ich weiß, aber es wird doch wohl noch erlaubt sein zu träumen. Ich bezweifle, dass es eine einzige Frau auf der Welt gibt, die ihn zurückweisen würde.“
Izzy wollte auf einmal dringend wissen, wie er aussah. Sie hatte ein ungefähres Gefühl für seine Größe und Form. Sie wusste, dass er stark war, und sie erkannte seinen Geruch im Dunkeln. Aber was war mit dem Rest von ihm? Lächelte er viel? Welche Farbe hatten seine Augen?
Und was das Abweisen anging, musste sie an ihre letzte Unterhaltung denken. Wie nah sie beieinandergestanden hatten. Wie er ihre Wange berührt hatte. Sie mochte das Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut, und für eine Sekunde hatte sie gedacht, dass er sie vielleicht küssen würde.
Ein unerwartetes Verlustgefühl breitete sich in ihrer Brust aus. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas Wichtiges verpasst hatte. Was verrückt war. Sie war hier, weil sie hier sein musste. Sobald sie sich wieder in der realen Welt zurechtfand, würde sie gehen. Nick gehörte nicht zu ihrem Leben.
„Okay, hol mir mal eine Wurzelbürste aus der Kammer“, sagte Rita. „Dann sollte es auch schon Zeit fürs Mittagessen sein.“
Izzy drehte ihren Kopf in Richtung Stall. „Ich mag die Kammer nicht“, sagte sie. „Sie ist zu dunkel.“
„Ach ja?“
„Sie macht mir Angst.“ Sogar mit angeschaltetem Licht konnte sie in der Sattelkammer nichts erkennen. „Wie eine unheimliche Höhle.“
„Das Leben ist voller unheimlicher Höhlen. Stell dich ihnen einer nach der anderen.“
Dass Rita ihre Angst einfach so abtat, nervte Izzy. Jeder steckte so voller guter Ratschläge. „Ich stimme dir zu, dass ich mich durch verschiedene Sachen durchkämpfen muss, aber nicht alles an einem Tag. Also mach mal halblang, ja? Reicht es nicht, dass ich Fortschritte mache? Lass mich raten, nein, es reicht nicht. Weil sich jeder hier eine Meinung über mein Leben gebildet hat. Du weißt doch gar nicht, wie es ist, blind zu sein.“
„Du auch nicht. Du hast noch dreißig Prozent deiner Sehkraft.“
„Ja, ganz großartig.“
„Für jemanden, der ganz blind ist, ganz bestimmt. Für ihn hast du alles, was er sich erträumt.“
„Richtig. Weil ich mich immer daran erinnern muss, dass es Menschen gibt, denen es noch viel schlechter geht als mir.“
„Nicht schlechter. Sie haben nur mehr, mit dem sie zurechtkommen müssen. Und du liegst falsch, was mich angeht. Ich weiß, was es bedeutet, blind zu sein, denn ich bin es. Komplett. Von Geburt an.“
Sie sprach weiter, aber Izzy hörte ihre Worte nicht mehr.
Rita war blind? Aber sie führte doch den Stall. Sie fütterte und trainierte alle Pferde, wusste, wo sie waren, kümmerte sich um sie. Sie sagte Izzy, was zu tun war, erklärte ihr, wie es ging und korrigierte sie, wenn sie etwas falsch machte. Sie bewegte sich mit solcher Leichtigkeit und war noch nicht einmal gestolpert.
„Ich verstehe das nicht“, flüsterte Izzy.
„Was gibt es da zu verstehen? Es ist eine ziemlich einfache Diagnose. Meine Eltern haben mich auf ein Pferd gesetzt, als ich vier war, und ich wollte nie wieder absteigen. Ich bin immer in der Nähe von Pferden gewesen. Sie scheinen zu wissen, dass ich nicht sehen kann, denn mir ist noch nie eines auf den Fuß getreten oder hat mich zur Seite geschubst. Nick musste eine ganze Menge Geld auf den Tisch legen, um mich von meinem letzten Job wegzulocken. Aber ich hatte Lust auf eine Veränderung, und außerdem ist er ziemlich gut darin, Leute zu überreden.“
Blind. Izzy konnte es nicht fassen. „Das hätte ich niemals gedacht.“
„Nimm’s nicht persönlich, aber du bist auch nicht sonderlich schwer zu täuschen. Ist ja nicht so, dass du Adleraugen hättest.“ Rita klopfte ihr auf die Schulter. „Es ist nur die Dunkelheit, Kind. Bloß weil du nicht sehen kannst, was da ist, musst du keine Angst davor haben. Es ist nur die Dunkelheit.“
Es war eine ganze Menge mehr als das, aber Izzy wollte sich nicht streiten. Vor allem nicht mit Rita, die augenscheinlich keine Probleme hatte, sich in der Welt zurechtzufinden. Davon kann ich noch was lernen, dachte Izzy. Etwas über Mut und Entschlossenheit. Etwas, worüber sie offensichtlich noch
Weitere Kostenlose Bücher