Frisch gepresst: Roman (German Edition)
mein mütterliches Wesen entdeckt und mir sein Herz ausschüttet. Keine Reaktion. Muß doch was mit Drogen sein.
Bei dem Mittdreißiger-Pärchen nebendran ist alles eindeutig. Sie tragen schnieke, nagelneue Jogginganzüge und Helm. Er einen in Neongelb, sie in Neonpink. Seine Hand ist auf die Größe eines mittleren Pfannkuchens geschwollen. Als wäre jemand drübergefahren. Muß aber ein Rollerblades-Unfall gewesen sein. Sie hat ihre noch an, und trägt seine unterm Arm. Tja, an den Händen helfen Knieschützer und Helm leider nicht. Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Müssen Menschen, die noch älter sind als ich, nachts Rollschuh laufen? Definitiv nein.
Die junge Türkin in der Ecke dagegen hat meine volle Sympathie. Vier erwachsene Männer, alle mit schwarzem Schnurrbart, reden auf sie ein. Lautstark. Leider auf türkisch. Mehr als »danke« und »bitte« kann ich nicht. Schade, denn ich liebe diese Sprache. Die vielen Üs sind so lustig. Es klingt einfach nett. Aber die Grammatik ist sauschwer. Ich wollte es mal lernen, habe aber nach kurzer Zeit frustriert aufgegeben. Sie ist eins dieser modernen türkischen Mädchen. Voll gestylt, mit Plateauschuhen, einer 501 und einem dieser Blüschen, von denen ältere Leute immer denken, sie wären eine Nummer zu klein. Dabei ist das Absicht. Muß so sein. 70er-Jahre-Look. Orange. Sieht toll aus zu den dunklen Haaren. Zu dem, was man von ihnen sieht. Ein lieblos geschwungenes Kopftuch verdeckt die Pracht und ist anscheinend das Zugeständnis an die Begleiter. Was die wohl hat? Rein äußerlich sieht man nichts. Wollen die überprüfen, ob das Jungfernhäutchen noch da ist, wo es hingehört? Grausige Vorstellung. Ich werfe einen bösen Blick auf die Typen. Ziemlich verheult sieht die Kleine aus. Trotzdem noch niedlich. Manche Frauen entstellt rein gar nichts. Ich drücke ihr die Daumen.
Das hier kann dauern. Die waren ja alle vor mir da. »Christoph, du mußt nicht warten. Ich glaube kaum, daß du Lust hast, deine Nacht hier zu verbringen«, schlage ich in einem Anfall von Freundlichkeit vor. Nimmt er an, wäre ich natürlich beleidigt. Aber er funktioniert und wehrt fest entschlossen ab: »Kein Problem, ich habe alle Zeit der Welt. Ich laß dich hier doch nicht allein.« Ich habe seine Beschützerinstinkte herausgefordert. Das mögen Männer. Man erscheint höflich und kriegt damit, was man will. Einer der leichtesten Tricks überhaupt. Erfolgsquote hoch. Eine Schwenktür klappt auf: Im Türrahmen eine etwas abgekämpft aussehende Frau. Sie trägt ein Stethoskop um den Hals. Das Erkennungszeichen. Ich bin beruhigt. Endlich Fachpersonal. Ihr weißer Kittel war mal weiß. Verhärmt, aber durchaus hübsch. Schönes, dunkles, langes Haar. »Thorsten Jensen bitte, und Sie da mit der Hand«, ruft sie uns zu. Wir haben hier im Wartezimmer alle Hände. Wen meint sie? Die Pfannkuchenhand erhebt sich. Da sie nicht widerspricht, scheint es die richtige Hand zu sein. Obwohl es die einzige ist, die nicht mehr danach aussieht.
Sie verschwinden hinter der geheimnisvollen Klapptür. Am Schalter schon der Nachschub. Ein lebendes Gesamtkunstwerk. Von oben bis unten tätowiert. Ganzkörpertattoos. Ein Mann, der nie langweilig werden kann. An so einem Körper gibt es ständig was Neues zu entdecken. Wenn der Typ später verfettet, können da nette Überraschungen entstehen. Mitten im wilden Liebesspiel: »Huch, in deiner Bauchfalte ist ja ein Skorpion versteckt.« Oder ein Anker, eine Nackte, oder was man so tätowiert. Früher waren Tattoos der direkte Hinweis aufs Milieu. Bäbä. Loddel oder Knastbruder. Heute dekoriert auch die Schuhverkäuferin, die Vorstandssekretärin oder die Radiomoderatorin gerne mal ein Lieblingskörperteil. Eine winzige Rose auf dem Po, einen Schmetterling am Oberarm oder einen Delphin auf dem Bauch. Bei ganz straffem Gewebe mag das ja noch nett aussehen. Ich finde es gewagt. Die Vorstellung, als 76jährige mit einer Tätowierung auf dem schwabbeligen Oberarm in Mallorca eine Inselrundfahrt zu machen und jedem zu erklären, daß das verhutzelte Teil auf meinem Cellulitisarm mal ein Schmetterling war, gefällt mir nicht. Bei 17-jährigen Hard-Rock-Fans könnte ein Totenkopf auf dem Unterarm mit viel Wohlwollen noch als cool gelten. 20 Jahre später, als stellvertretender Abteilungsleiter der Sparkassenfiliale im Hintertaunus, muß der ehemalige Hard-Rock-Fan selbst im Hochsommer darauf verzichten, die Ärmel hochzukrempeln, weil niemand sehr viel Vertrauen in
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