Frisch gepresst: Roman (German Edition)
einen stellvertretenden Filialleiter mit Totenkopf hat.
Ich glaube, das Gesamtkörpertattoo am Schalter braucht dringend urologische Hilfe. Sein Problem liegt anscheinend in der Reißverschlußzone. Er hält sich recht ungeniert sein Teil, und obwohl ich mich sehr anstrenge, kann ich nur Satzfetzen aufschnappen. Der Tätowierte spricht so leise. Leider. Gönnt seinen Mitpatienten im Warteraum nicht die kleinste Freude. Irgendwas von Piercing im Selbstversuch und einem Ring, der nicht mehr rausgeht. Muß die junge, verhärmt aussehende Ärztin das behandeln? Ob er auch da tätowiert ist? Ist ja ekelhaft.
Für die junge Türkin ist der Mann mit den Tattoos ein Segen. Ihre 4 Bewacher sind abgelenkt. Komplett fasziniert. Die staunen, als wäre hier mitten in der Notaufnahme der Frankfurter Uniklinik ein Ufo gelandet. Der Kerl würde zur Not sogar als Außerirdischer durchgehen. Er setzt sich neben Christoph. Dahin, wo der mit der Latexhose gesessen hat. Wieviel Jahre seines Lebens der wohl im Tattoostudio verbracht hat? Vielleicht gehört ihm eins? Und die Verhärmte darf sich nach getaner Arbeit zur Belohnung eins wünschen. Ein Mini-Stethoskop knapp überm Herz? Ein rotes Kreuz zwischen den Schulterblättern?
Was wohl die anderen hier von mir denken? Ich will es gar nicht wissen. Langsam werde ich müde. Das sicherste Zeichen sind meine Kontaktlinsen. Die wollen raus. Da kann der Rest noch so wach sein. Wenn die Augen unter den Linsen nicht mehr genug Sauerstoff bekommen, fangen sie an, trocken zu werden. Mißachtet man dieses untrügliche »Linsen-raus«-Signal, sieht man seine Umgebung bald nur noch völlig verschliert. Wie im Nebel. Eine Stunde sitzen wir hier mindestens schon. Gehen oder weiter warten ist die Frage? Schwer zu sagen. Entscheide ich mich, zu gehen, wäre ich garantiert eine Minute später dran gewesen. Und die vergangene Wartezeit komplett umsonst. Bleibe ich und harre aus, weil ich ja bestimmt gleich dran bin, dauert es noch Stunden, in denen ich mir die »Gehen-oder-warten«-Frage noch zigmal stellen werde. Sich übers Warten aufzuregen ist eine relativ zwecklose Angelegenheit. Mit manchen Dingen muß man sich einfach abfinden. Menschen wie ich stehen im Supermarkt, nach langen Überlegungen, doch immer wieder an der lahmsten Kasse in der Schlange. »Momentchen, die Rolle muß gewechselt werden« – oder – »Bitte mal Storno an der 7«. Ich durchschaue einfach nicht, nach welchem Prinzip Kassenwarteschlangen funktionieren. Deshalb rege ich mich auch nicht mehr auf. Dann warte ich halt. Es geht sowieso nicht schneller, wenn ich ausraste. Geschwindigkeit steigt leider nicht proportional zum Adrenalinspiegel.
Wieder klappt die Tür. Die Verhärmte hält Ausschau nach ihren nächsten Opfern. Wo bleiben eigentlich die, die diese Klapptür verschluckt hat? Der Ecstasy-Bub und die Pfannkuchenhand? Ein gutes Licht wirft so was nicht auf eine Klinik. 2 von 2 Patienten verloren. Doch die Erkenntnis kommt zu spät. Keine Zeit mehr zum Türmen. »Frau Schnidt und der Notfall bitte«, bittet die Ärztin zur Audienz. »Frau Özgür, zu Ihnen komme ich gleich mit dem Ergebnis der Laborwerte. Gedulden Sie sich bitte noch einen Moment.« – »Wird ja auch Zeit, mein Ding ist wie in einer Schraubpresse«, motzt der Tätowierte. Ich schäle mich aus dem Plastikstühlchen und merke, daß das, was mal mein Fuß war, streikt. Er will nicht mehr. Absolute Funktionsstörung. Ich hickele zur Tür. Christoph springt beflissen auf: »Soll ich mitkommen?« Aufmerksam ist er, der Leptosom, da kann man nicht meckern. Etwas unbeholfen reicht er mir seinen Arm, und wir verschwinden im geheimnisvollen Raum hinter der Klapptür. Von einem langen Gang gehen diverse Zimmerchen ab. »Frau Schnidt in die 3, und Sie bitte in den OP hinten links.« Der Tätowierte will aufmucken. »Wie OP , was soll das bedeuten? Ich lasse ihn mir nicht abschneiden«, kommt es wehleidig. Die Verhärmte reagiert überhaupt nicht auf sein Gejammer und schiebt ihn in ein Zimmer am Ende des Gangs. Wir ziehen uns, wie angewiesen, in Raum 3 zurück, obwohl ich zu gerne vor dem OP noch ein bißchen gelauscht hätte. Zimmer 3 ist ein durchschnittlicher Behandlungsraum. Eine Liege und ein Medikamentenschränkchen. Nichts weiter. Nach 10 Minuten erscheint die Ärztin. »Was ist denn da passiert?« fragt sie und schaut dabei strahlend zu Christoph auf. Ich komme mir vor wie beim Kinderarzt. Papi soll erklären, was die ungeschickte Kleine angestellt hat.
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