Frisch gepresst: Roman (German Edition)
Tonlage.
Claudia, anscheinend ein durchaus sensibles Etwas, fängt an zu schreien. Als Birgit jetzt auch noch Geschenke für mich und Claudia aus ihrer Handtasche holt – eine Jil-Sander-Tasche, »aber ganz günstig secondhand erstanden« – , da hört es für Mona echt auf. Mit Schmackes wirft sie sich auf den Boden und mutiert wieder zum Baby. Zu einem der besonders unangenehmen Sorte. Von Eifersucht gequält, rollt sie sich am Boden. »Mona, hilfst du mir die Päckchen aufzumachen?« versuche ich sie aus ihrem Anfall zu befreien.
Manchmal brauchen sie nur Hilfe. Hilfe raus aus ihren Attacken. Habe ich gelesen. In einer Elternkolumne. Man darf ihnen, bei welchem Affentanz auch immer, keine schmieren, sondern muß ihnen aus der Situation heraushelfen. Lieber als: »Willst du mir beim Auspacken helfen«, hätte ich »Halt jetzt mal den Rand« gesagt, aber eigentlich mag ich meine Nichte gern, und daß die Situation recht unerfreulich für sie ist, kann ich gut verstehen. Birgit, meine Schwester, sollte an sich noch mehr Verständnis für ihr Kind haben. Schließlich ist es ihr ähnlich gegangen, als ich auf die Welt kam. Das Gute an mir war nur, daß ich ihr sowieso nicht das Wasser reichen konnte. Das hat sie blitzschnell erkannt und aus mir einen ihrer treuen Leibeigenen gemacht. Die ersten Jahre meines Lebens bin ich wie ein kleiner Trottel hinter ihr hergewatschelt. Habe sie angebetet. Das hat sich allerdings mittlerweile etwas gelegt. Aber so ganz raus aus meiner Rolle werde ich wohl nie mehr kommen. Desdemona weiß anscheinend noch zu wenig über die Möglichkeiten, sich Kleine zunutze zu machen. Sie führt sich auf wie auf einem bösartigen Trip. Meine Schwester, die normalerweise jede Situation absolut im Griff hat, erscheint mir ein bißchen ratlos. Sie versucht’s auf die Vernünftige: »Desdemona, mein Goldschatz, was ist denn eigentlich los?« Wenig erfolgreich. Das Kind ist so besessen von dem grauenvollen Gedanken der Entmachtung, daß die ruhige Stimme ihrer Mutter überhaupt nicht zu ihr vordringen kann. Obwohl es nervt, ist es doch auf eine Art erfreulich, daß auch solche Superweiber wie meine Schwester ihre Brut nicht hundertprozentig anfallfrei erzogen haben. Birgits Geschenk ist – welch eine Überraschung – ein Gutschein. Birgit liebt Gutschein-Geschenke. Weil, wenn man viel Glück hat, der Beschenkte den Gutschein vergißt, und meine Schwester so immens Geld spart. Auf lange Sicht gesehen. Ich könnte jeden Altpapiercontainer zum Überquellen bringen mit alten angegammelten Gutscheinen von ihr. Diesmal ist es ein Gutschein für einen Kursus: »Musikalische Früherziehung ab 3 Jahren«.
»Claudia soll die gleichen positiven Erfahrungen machen wie unsere Mona« sind ihre salbungsvollen Begleitworte. »Muß das Baby auch in musikalische Früherziehung?« läßt sich das tobende Rumpelstilzchen namens Desdemona hämisch vom Boden aus vernehmen. »Natürlich geht die Kleine auch in Mufrü, mein Schatz«, freut sich Birgit über das wiedererlangte Bewußtsein ihrer Tochter. Mufrü. Da hört sich doch alles auf. Ein Kosename für einen VHS -Kursus.
Ich bekomme einen Gutschein für Maniküre und Gesichtsbehandlung. »Etwa bei Frau Farfalle?« platzt es aus mir raus. »Hat man dir neben dem Dammschnitt noch sonstwo was auf- oder weggeschnitten, am Kopf vielleicht?« kommt die pikierte Reaktion von meiner lieben großen Schwester. Artig bedanke ich mich und nehme mir vor, die Gutscheine diesmal auf jeden Fall einzulösen. Vielleicht schaffe ich mit einem Kind die Wende. Den Sprung aus dem Schatten meiner Schwester. Eine reizvolle Aussicht. Der Gedanke gefällt mir ausnehmend gut.
Desdemona berappelt sich langsam. Kommt auf Claudia zu. »Darf ich die mal halten?« fragt sie mich mit leicht verquollenen Augen. Richtig beruhigend finde ich den Gedanken nicht. Was ist, wenn sie sich wieder neu erregt und ihr meine Tochter dabei versehentlich aus den Armen flutscht? Trotzdem sage ich natürlich ja. Weil man Mitgliedern der Sippe nichts abschlägt. Weil ich aufs Gute im Menschen vertraue. Oder weil ich meine Schwester nicht verärgern will. Wahrscheinlich deshalb. Mona setzt sich auf den Rand meines Bettes, und ich lege ihr Claudia in die Arme. Ungeschickt tatscht Mona meiner Tochter im Gesicht herum. Zu ungeschickt für eine Kindergartenbesucherin, die komplizierteste Legogebilde zusammensetzen kann. Soll das ein Test werden? Was können Neugeborene aushalten? Und wie lange?
Bevor ich die Nerven
Weitere Kostenlose Bücher