Frisch gepresst: Roman (German Edition)
neben einem verwüsteten Papierkorb. »So, das genügt mir als Wetteinlösung, die anderen Pralinen darfst du essen und nun, husch, zurück ins Bettchen«, dirigiert sie mich in Richtung Entbindungsstation. Ich nuschele was von baldiger Visite, wie froh ich bin, daß Sabine meinem Chef sicher gerne noch mal alles erklärt, und danke ihm, meinem Chef, noch mal herzlich für sein Geschenk. Seine leckeren Pralinchen. Was ich hier lüge, ist unsäglich. Aber ist es nicht eine Art Notlüge? Wer sagt seinem Chef schon die volle Wahrheit: »Hier, du Geizhals, deine Scheißpralinen, die vergammelten altmodischen Dinger kannst du selbst essen, auf daß du daran und an deinem Geiz erstickst!« Ich arbeite gerne da, wo ich arbeite, und wenn ich dort jemals wieder antreten darf, dann nur, weil Sabine heute mal ausnahmsweise das richtige »falsche« Kleid anhatte. Wie ein reumütiger Dackel trete ich den Rückzug an. »Ich komme gleich nach«, ruft mir Sabine hinterher. Als ich mich noch mal kurz umdrehe, sehe ich schon den Start von Sabines Routinebalzprogramm. Sie streift sich durchs Haar, wirft den Kopf in den Nacken und kichert. Ob ihr der Hohrwerker, so heißt mein Chef, Gustav Hohrwerker Junior, auf den Leim geht? Wäre nicht der erste.
Vom Alter her sind die beiden eigentlich nicht kompatibel, aber Sabine hat ja gerne Typen mit Aussicht auf baldige Rente. Egal, was und wie sie es mit Hohrwerker macht. Sollte es ein wirres Bild von einer ebensolchen Frau, die wie ein Rumpelstilzchen im Papierkorb auf und ab springt, verdrängen, dann hat Sabine einen bei mir gut. Was rede ich da. Dann hat sie mir einen echten, wahren, wunderbaren Freundschaftsdienst erwiesen. Mich aus einer der blamabelsten Situationen meines Lebens gerettet. Wie hatte ich annehmen können, daß heute ein guter, schöner und entspannter Tag werden würde. Wie naiv bin ich bloß.
Wie ein begossener Pudel schleiche ich mich zurück in mein Zimmer. Die Müller-Wurz ist eindeutig am Packen. Ihr Konstantin Samuel David ist schon abreisefertig. So eingehüllt, sieht er eher wie ein Schaf aus. Gar nicht mehr tiefkühlhühnchenmäßig. Bei soviel Schaffell, wie um den armen Bub herumgeschlungen ist, wundert mich, daß er nicht anfängt zu mähen. Die Müller-Wurz hat ihre Morgenmuffelei anscheinend überwunden und erzählt mir freudig erregt, daß sie heim darf. »Ich dachte schon, ihr würdet anziehen üben«, schenke ich ihr kurz vor ihrer Abreise noch einen ein. Kulant sieht sie drüber weg und reicht uns beiden, der Tratschner und mir, kleine Zettelchen. Ach, der übliche Adressentausch, denke ich mir. Als ich mir die Adresse ansehe, bin ich doch verwundert. Feministisches Frauengesundheitszentrum steht da, mit voller Anschrift. Die Müller-Wurz ist eine, die man nicht unterschätzen darf. Der letzte Treffer ist ihr. Zweifelsohne. Wie elegant die uns mitteilt, daß uns ein wenig feministische Bildung nicht schaden würde. Wir müssen alle lachen. Immerhin. Wäre doch schade gewesen, sich in aufgeladener Kampfesstimmung zu verabschieden. Wir wissen alle: uns trennen Welten. Wir werden nie die dicksten Freundinnen sein, aber die Zeit hier – es hätte uns schlimmer erwischen können. Wir werden richtiggehend gerührt beim Abschied. Sebastian Müller-Wurzens Erscheinen verhindert, daß wir uns auch noch abküssen. Der Mann sieht heute immer noch so irrsinnig aus wie gestern. Es lag also nicht an Resten meiner PDA . Er ist einfach ein schöner Kerl. Ich hoffe, sie werden glücklich, die zwei. Was kann ich selbstlos sein. Jedenfalls in Gedanken.
Mit Sack und Pack ziehen die drei von dannen. Inge hat den Kleinen, und Sebastian trägt den Rest. Zentner von Zeugs. Wer weiß, wo der Mann seine Defizite hat, denke ich mir und hake die Familie Müller-Wurz ab. Aus den Augen, aus dem Sinn. »War die Visite etwa schon da?« befrage ich meine übriggebliebene Zimmergenossin, Frau Tratschner. »Klar«, kommt die Antwort, »und der Marek, der Weißkittel-Obermufti, hat die Müller-Wurz persönlich entlassen.« Nach der Vorstellung gestern bei der Visite und dem Schlagabtausch der beiden wundert mich das nicht. »Wo Sie wären, wollte der Marek noch wissen, und ich soll Ihnen sagen, demnächst erwarte er Sie bei der Visite an Ihrem Platz«, teilt sie mir mit. »Was war denn in dem Paket unten an der Pforte?« will sie noch rauskriegen. Und ob ich die Pforte nicht gefunden hätte. Ich wäre ja ewig weg gewesen. Ich erspare ihr die ganze Horrorgeschichte. Was heißt, ihr?
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