Frisch getraut: Roman (German Edition)
Kompliment gezehrt hatte.
Clare spürte die scharfen Kanten des Baums in ihrem Rücken, während sie Sebastian nachsah, der auf die Veranda des Kutschenhauses stieg. Das Licht über seinem Kopf ließ sein Haar golden und das Weiß seines Hemdes fast neonfarben schimmern. Er öffnete die rote Tür und verschwand im Haus.
Wieder hob sie die Finger an die Lippen, die von seinem Kuss ganz empfindlich waren. Sie kannte ihn schon fast ihr ganzes Leben, aber eins war sicher: Sebastian war kein Junge mehr. Er war definitiv ein Mann. Ein Mann, der Frauen wie Lorna Devers dazu brachte, ihn zu mustern wie eine süffige, dekadente Leckerei. Wie etwas, in das sie nur einmal hineinbeißen wollte.
Clare kannte das Gefühl.
Zehn
In der zweiten Septemberwoche ging Sebastian an Bord eines internationalen Fluges nach Kalkutta. Mehr als siebentausend Meilen und vierundzwanzig Stunden später bestieg er eine kleinere Maschine, die ihn zur Ebene von Bihar brachte, wo Leben und Tod von der Laune des jährlichen Monsuns und der Fähigkeit abhingen, ein paar hundert Dollar aufzutreiben, um kala azar – Schwarzfieber – zu bekämpfen.
Er landete in Muzaffarpur und fuhr mit einem ortsansässigen Arzt und einem Fotografen vier Stunden bis zu dem Dorf Rajwara. Aus der Ferne wirkte der Ort idyllisch und von der modernen Zivilisation unberührt. Männer im traditionellen dhoti kurta bestellten mithilfe von Holzkarren und Wasserbüffeln die Felder, doch wie in allen unterentwickelten Teilen der Welt, über die er in der Vergangenheit berichtet hatte, war dieses Idyll eine Illusion.
Während er und die beiden Männer durch die Gassen von Rajwara liefen, wurden sie von Scharen aufgeregter Kinder umringt, die die ganze Zeit Staub aufwirbelten. Eine Baseball-Kappe der Seattle Mariners schirmte sein Gesicht von der Sonne ab, und die Taschen seiner Cargohose hatte er mit Ersatzbatterien für sein Tonbandgerät vollgestopft. Der Arzt war im Dorf bekannt, und Frauen in leuchtenden Saris kamen aus den Strohhütten und redeten aufgeregt auf Hindi auf ihn ein.
Sebastian benötigte keinen Dolmetscher, um zu verstehen, was gesagt wurde. Die Stimme der Armen, die um Hilfe bettelten, sprach eine universelle Sprache.
Mit den Jahren hatte Sebastian gelernt, eine professionelle Distanz zwischen sich und dem, was um ihn herum vor sich ging, aufzubauen. Über das Erlebte zu berichten, ohne im schwarzen Nebel hoffnungsloser Depression zu versinken. Doch Szenen wie diese waren schwer zu ertragen.
Er blieb drei Tage in der Ebene von Bihar und interviewte Rettungshelfer, die für »One World Health« und »Ärzte ohne Grenzen« arbeiteten. Er besuchte Hospitäler. Er sprach mit einem pharmazeutischen Chemiker aus den Staaten, der ein stärkeres, wirksameres Antibiotikum entwickelt hatte, doch wie bei der Entwicklung aller Arzneimittel war auch hier Geld der Schlüssel zum Erfolg. Er besuchte noch eine letzte Klinik und lief durch die engen Bettreihen, bevor er zurück nach Kalkutta flog.
Sein Flug ging am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe, und er konnte es kaum erwarten, sich in der Hotellounge weit weg vom Menschengetümmel, von den überwältigenden Gerüchen und der ständigen Lärmkulisse der Stadt zu entspannen. Indien besaß einige der schönsten Sehenswürdigkeiten der Erde, aber auch die erbärmlichste Armut. An manchen Orten existierte beides nebeneinander, und nirgends war das besser zu sehen als in Kalkutta.
Es hatte eine Zeit gegeben, als er Journalisten verachtete, die er für Weicheier hielt – die »alten« Knaben, die es sich in hübschen, bequemen Hotelbars gemütlich machten und Hotelessen bestellten. Als junger Journalist war er der Meinung gewesen, dass die besten Storys draußen auf der Straße lagen, in den Schützengräben und auf den Schlachtfeldern, in den
billigen Absteigen und Slums, und nur darauf warteten, erzählt zu werden. Er hatte recht gehabt, aber das waren nicht immer die einzigen lohnenswerten Storys oder zwangsläufig die wichtigsten. Damals glaubte er noch, er müsste spüren, wie die Kugeln um seinen Kopf schwirrten, doch er hatte gelernt, dass Berichterstattung mit dieser hohen Drehzahl dazu führen konnte, als Reporter die Perspektive zu verlieren. Die Hektik, einen Bericht fertigstellen zu müssen, konnte zum Verlust der Objektivität führen. Einige der besten Reportagen entstanden, wenn man gründlich und unvoreingenommen hinschaute, und mit den Jahren hatte er die manchmal schwierige Kunst der
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