Frisch getraut: Roman (German Edition)
journalistischen Ausgewogenheit perfektioniert.
Mit fünfunddreißig war Sebastian schon diverse Male an Ruhr erkrankt, ausgeraubt worden, durch fließende Ströme aus stinkenden Abwässern gewatet und hatte den Tod schon so oft gesehen, dass es ihm fürs ganze Leben reichte. Er hatte so gut wie alles erlebt und sich jeden Zentimeter seines Erfolgs hart erarbeitet. Er musste nicht mehr um die Verfasserzeile kämpfen. Nach Jahren, in denen er mit Hochdruck gearbeitet hatte, mit Volldampf Storys und Aufmachern nachgejagt war, hatte er sich Zeit zum Ausspannen in einem klimatisierten Hotel verdient.
Er bestellte sich ein Cobra-Bier und Tandoori-Hühnchen, während er seine E-Mails abfragte. Als er die Hälfte seines Essens verdrückt hatte, entdeckte ihn ein alter Kollege.
»Sebastian Vaughan.«
Sebastian schaute auf und lächelte breit, als er den Mann wiedererkannte, der auf ihn zukam. Ben Landis war kleiner als Sebastian, mit dichtem schwarzem Haar und einem offenen, freundlichen Gesicht. Bei ihrer letzten Begegnung war
Ben Korrespondent für USA Today gewesen, und sie hatten beide in einem Hotel in Kuwait festgesessen und auf die Irak-Invasion gewartet. Sebastian erhob sich erfreut und schüttelte Ben die Hand. »Was machst du hier?«, fragte er.
Ben nahm ihm gegenüber Platz und winkte nach einem Bier. »Ich schreibe an einem Artikel über die ›Missionare der Nächstenliebe‹ zehn Jahre nach dem Tod von Mutter Teresa.«
Sebastian hatte 1997, als er das letzte Mal in Kalkutta war, einen Artikel über die »Missionare der Nächstenliebe« geschrieben, nur wenige Tage nach dem Tod der katholischen Nonne. Seitdem hatte sich wenig verändert, aber das war keine Überraschung. Veränderung vollzog sich in Indien nur schleppend. Er hob sein Bier an die Lippen und trank einen Schluck. »Und wie läuft’s so?«, fragte er.
»Na, du weißt ja, wie langsam hier alles vorangeht. Wenn man nicht gerade im Taxi sitzt, scheint alles stillzustehen.«
Sebastian stellte seine Flasche auf dem Tisch ab, und die beiden brachten sich auf den neuesten Stand, tauschten Kriegsgeschichten aus und bestellten sich ein zweites Bier. Sie ergingen sich in Erinnerungen daran, wie sehr es ihnen auf den Geist gegangen war, jedes Mal, wenn während der Irak-Offensive die Gefahr eines chemischen Angriffs gedroht hatte, in warme, verschwitzte Chemieschutzanzüge zu steigen. Sie lachten über das Chaos, als den Truppen aus der Heimat Anzüge in Waldgrün geschickt wurden statt in Sandsturmbeige, obwohl es damals gar nicht zum Lachen gewesen war. Sie erinnerten sich daran, wie sie jeden Morgen in flachen Sandlöchern mit einer Staubschicht im Gesicht aufgewacht waren, und lachten noch mehr über die handfeste Schlägerei zwischen einem kanadischen Friedensaktivisten, der Rumsfeld einen Kriegstreiber
genannt hatte, und einem amerikanischen Nachrichtendienst-Reporter, der daran Anstoß genommen hatte. Die Keilerei war ziemlich ausgeglichen verlaufen, bis zwei Frauen von Reuters sich einmischten und die beiden trennten.
»Erinnerst du dich an die italienische Reporterin?«, fragte Ben grinsend. »Die Frau mit den vollen roten Lippen und den vollen …« Er wölbte die Hände vor der Brust. »Wie hieß sie noch?«
»Natala Rossi.« Sebastian hob die Flasche an den Mund und trank einen Schluck.
»Ja. Genau die.«
Natala war Reporterin für Il Messaggero gewesen, und ihre der Schwerkraft trotzenden Brüste waren für ihre männlichen Kollegen ein ständiger Quell der Faszination und Spekulation gewesen.
»Die müssen einfach unecht gewesen sein«, verkündete Ben und trank einen kräftigen Schluck Bier. »Definitiv.«
Sebastian hätte ihn aufklären können. Er hatte mit Natala eine lange Nacht in einem jordanischen Hotel verbracht und wusste – sozusagen aus erster Hand –, dass ihre wunderschönen Brüste echt waren. Er hatte nur sehr wenig Italienisch verstanden; sie sprach nur sehr schlecht Englisch; doch ums Reden war es nicht gegangen.
»Es ging das Gerücht, dass sie dich mit in ihr Hotelzimmer genommen hat.«
»Interessant.« Er war noch nie der Typ gewesen, der sich mit seinen Eroberungen brüstete, nicht mal, wenn es eine interessante Story hergegeben hätte. »Und, hatte ich Spaß?« Wenn er an jene Nacht zurückdachte, konnte er sich kaum noch an Natalas Gesicht oder ihre leidenschaftlichen Schreie erinnern.
Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht verstand, tauchte stattdessen eine andere Brünette in seiner Erinnerung
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