Frisch verliebt - Mallery, S: Frisch verliebt
Herz immer schneller pochen ließ und ihr fast die Luft nahm, war das schwarze Klavier, das in einer Ecke stand.
Amy machte irgendwelche Gebärden, die vermutlich so etwas wie „Spiel doch mal“ oder „Kannst du darauf spielen?“ bedeuteten. Claire gab keine Antwort. Stattdessen ging sie auf das Klavier zu und starrte es mit einer Mischung aus Angst und Verlangen an.
Es waren jetzt fast vier Wochen, in denen sie nicht mehr gespielt hatte. Seit jener verheerenden Vorstellung, als sie in Panik geraten war und nicht mehr atmen konnte, hatte sie kein Klavier mehr angerührt. Seitdem bestand ihre Welt nur noch aus ihrer Angst und der Überzeugung, dass jegliches Talent, das sie einmal besessen haben mochte, für immer verloren war.
Sie berührte die glatte Oberfläche und zog schnell die Hand wieder zurück. Auch ohne sich an die Tasten zu setzen, konnte sie sich den Klang der Musik vorstellen. Er würde das Wohnzimmer füllen und sich im ganzen Haus ausbreiten. Er würde anschwellen, wieder leiser werden und sie umfließen, bis die Musik ganz in sie eingedrungen war, ihr Blut in den Adern pulsieren und ihr Herz schlagen ließ.
Claire sehnte sich danach, den Klang zu hören, die Musik zu atmen. Noten brauchte sie nicht, sie konnte genug auswendig spielen.
Ganze Symphonien hatte sie im Kopf. Einzelne Sätze, Choräle, Operetten, Show-Stücke, komplette Konzerte. Millionen Noten. Sie konnte sich ein Notenblatt ansehen und wusste, wie es klingen würde. Und sie konnte alles hören, auch ohne es zu spielen, aber sie vermisste das Gefühl, die Tasten zu berühren und sich dann vollkommen von der Musik durchdringen zu lassen.
Gesegnet und verflucht zugleich, dachte sie, während sie zitternd die Hand auf die glänzend schwarze Abdeckung legte. Dies war ihr Leben, und ohne ihr Spiel war sie nichts. Zumindest war es das, was man ihr immer beigebracht hatte, und sie war hier, um sich eines Besseren zu belehren.
Sie dachte daran, dass ihre Managerin Lisa mindestens ein Dutzend Nachrichten hinterlassen hatte. Wenn schon nichts anderes, so war Lisa jedenfalls hartnäckig. Aber Claire hatte jede Einzelne ihrer Nachrichten ignoriert, denn sie wollte sich nicht wieder von dieser Welt einfangen lassen. Oh, aber die Musik vermisste sie.
Amy gab ihr einen freundlichen Schubs in Richtung Sitzbank und stellte sich dann so hin, dass sie ihre Hände oben auf das Klavier legen konnte.
„Spiel“, sagte sie.
Claire trat einen weiteren Schritt auf die Bank zu. Auf der Stelle fiel ihr das Atmen schwer und die Brust wurde ihr so eng, dass sie sicher war, sie würde gleich einen Herzanfall bekommen. Dann würde sie hier in Wyatts Wohnzimmer sterben und seinem Kind einen lebenslangen Schock versetzen. Das konnte sie nicht verantworten, und deshalb sollte sie lieber einfach gehen.
Stattdessen aber zwang sie sich, nun auch noch den letzten Schritt zu tun. Sie setzte sich also auf die Bank, klappte die Abdeckung hoch und starrte auf die Tasten.
Das Atmen fiel ihr schwer und sie sog die Luft tief ein, aber ihre Lungen schienen trotzdem nie genug zu bekommen. Sie zitterte so sehr, dass sie unmöglich spielen konnte, und ohne es zu wollen, erinnerte sie sich an die schockierten und enttäuschten Gesichter der Menschen, die damals um sie herumgestanden hatten. Man hatte eine Erklärung abgegeben, nach der Claire vor lauter Überarbeitung zusammengebrochen war. Von Angst wurde nichts erwähnt, und nichts davon, dass sie vielleicht verrückt wurde.
Sie wusste ja, dass die Panik ausschließlich in ihrem Kopf existierte und sie es war, die sich das selbst antat. Wenn sie es also nicht schaffte, damit fertig zu werden, war sie dann nicht per definitionem geistesgestört?
„Spiel“, wiederholte Amy.
Langsam nickte Claire. Sie ignorierte die Angst und das Gefühl, dass ihre Brust in sich zusammenzufallen schien, sie ignorierte das Zittern ebenso wie die Gewissheit, dass sie ihre Fähigkeit zu Spielen für immer verloren hatte, und legte die Hände auf die Tasten.
Etwas Einfaches, sagte sie sich. Etwas, das einem Kind gefällt.
Sie begann mit einem Wiegenlied von Bach. Mit einer Leichtigkeit, die sie erstaunte, floss die Melodie aus ihr heraus. An jede Note konnte sie sich erinnern und sie verspielte sich nicht ein einziges Mal. Die Musik füllte den Raum und hüllte sie beide ein. Amy stand dort, hatte die Augen geschlossen und presste beide Hände fest aufs Klavier.
In Claires Augen brannten die Tränen. Ich habe es so vermisst, dachte
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