Frisch verliebt - Mallery, S: Frisch verliebt
in der Musik zu verlieren. Stundenlang hatte sie gespielt, bis sie vor Erschöpfung zitterte und in Schweiß gebadet war. Endlos hatte sie immer weitergespielt und sich dabei gewünscht, die Musik könne alles heilen. Unglücklicherweise aber waren die Probleme in ihrem Leben so geartet, dass das Spielen eigentlich nur noch eine Ablenkung war, wenn auch eine sehr befriedigende.
„Im Augenblick habe ich keine Konzerttermine“, erklärte sie. „Es ist bald Sommer. Zum Ende des Frühlings hin läuft die Saison aus. Erst im Herbst geht alles wieder los.“
Wyatt nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl. „Sie haben also nicht alles abgesagt, um Nicole zu helfen?“
„Nein. Wäre es besser, wenn ich das getan hätte?“
„Ich weiß nicht. Gestern Abend, als ich vorbeikam, um nach Nicole zu sehen, haben wir davon gesprochen.“ Er war dort gewesen? Claire unterdrückte ein Bedauern darüber, dass sie seinen Besuch verpasst hatte.
„Ich hätte allerdings auch Termine abgesagt, um hierherzukommen“, erklärte sie. „Aber nicht, dass Nicole mir das jemals glauben würde.“
„Sie kann ein ganz schön zäher Brocken sein.“
„Wollen wir es so nennen?“
Er lächelte. „Sie sind sich ähnlicher, als Sie beide glauben.“
Weil wir Zwillinge sind, dachte Claire. Es gibt eine Verbindung zwischen uns, zumindest hat es die gegeben.
„Wie läuft das eigentlich?“, fragte Wyatt. „Sind Sie immer nur unterwegs oder spielen Sie auch in New York? Gehören Sie einem Orchester an? Ich habe nicht die geringste Ahnung davon, was Sie tun.“
Es war eine simple Frage, die vermutlich nur auf einem flüchtigen Interesse beruhte. Mehr nicht. Aber sie verwirrte Claire und sie fühlte sich unter Druck gesetzt.
„Mhm, gewöhnlich werde ich für einzelne Veranstaltungen gebucht. Manchmal gebe ich auch eine Reihe von Konzerten in einer Stadt. Bisher habe ich immer mit verschiedenen Orchestern gespielt. Entweder eine ganze Saison lang oder auch einen Teil der Saison. Aber ich ...“ Die Brust wurde ihr eng, und nicht etwa, weil Wyatt so gut aussah. „Ich spiele nicht mehr. Ich kann nicht mehr.“
„Sie sind ein bisschen jung, um sich schon zur Ruhe zu setzen.“
„Ich habe mich auch nicht zur Ruhe gesetzt. Ich kann nur ...“ Sie wollte es ihm nicht sagen, denn sie wollte nicht, dass es ihm peinlich wurde. Aber wie es aussah, konnte sie die Worte einfach nicht zurückhalten. „Ich kann nicht mehr spielen. Ich leide unter Panikattacken.“
Er sah sie an, als würde er nicht verstehen, was sie sagte.
„Angefangen hat es letztes Jahr“, beeilte sie sich zu erklären. „Ich war total müde und wollte eine Pause einlegen. Einfach mal ein paar Wochen lang gar nichts tun. Lisa aber wollte mich unbedingt auf eine zusätzliche Sommertournee schicken. Darüber habe ich mich wahnsinnig aufgeregt und dann irgendwie so getan, als hätte ich eine Panikattacke. Sofort hat sie einen totalen Rückzieher gemacht. Ich weiß, dass es nicht richtig war. Mir ist klar, es wäre ein Zeichen von Reife gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen, nicht wahr? Ich bin erwachsen, und es ist mein Leben. Aber so leicht ist es eben nicht.“
Mit beiden Händen umfasste Claire ihr Glas und betrachtete dessen Inhalt, da sie Wyatt lieber nicht ansehen mochte.
„Danach habe ich noch ein paar Panikattacken vorgetäuscht, einfach nur, um mir Lisa vom Hals zu schaffen. Eines Tages überfiel mich dann aber eine Attacke, die ich nicht kontrollieren konnte. Wahrscheinlich war ich inzwischen so gut darin, sie vorzutäuschen, dass sie dann Wirklichkeit wurden. Sie wurden immer schlimmer und heftiger, und heute kontrollieren sie mich. Die letzte Woche meiner Tournee habe ich gerade noch so überstanden, aber im allerletzten Konzert bin ich schließlich völlig zusammengebrochen.“
Sie senkte den Kopf, als die Scham sie überkam, und sie fühlte, wie ihre Wangen rot wurden. So sehr sie sich auch bemühte zu vergessen, was geschehen war, immer wieder durchlebte sie den Vorfall aufs Neue.
„Ich schäme mich so sehr, und ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann. Ich war auch schon bei einem Therapeuten, und er hat versucht, mir zu helfen. Deshalb weiß ich jetzt zwar vom Kopf her, dass sich nichts bessern wird, solange ich das Gefühl habe, dass es die einzige Möglichkeit für mich ist, Stärke zu zeigen. Aber ich habe keine Ahnung, wie ich meine Gefühle ändern soll. Und was ist, wenn ich nie wieder spielen kann? Es
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