Frischluftkur: Roman (German Edition)
Hinterausgang des Schützenhauses geöffnet hat und eine aufgerüschte, hochtoupierte Armada Roter-Teppich-Schönheiten auf die Raupenbahn zugerauscht kommt.
»Wo ist hier der Chef?«, kreischt die Speerspitze der zukünftigen Filmpreisträgerinnen. Natürlich: Monique. »Wir lassen uns nicht länger veräppeln! Ich will jetzt endlich die Rolle, die mir zusteht! Wo ist der Mann, der ein echtes Talent erkennt, wenn es vor ihm steht? Wo ist dieser verdammte Regisseur, der mich berühmt macht?« Ihre Stimme übertönt Agneta und Annafrid mühelos.
Dann sieht sie die Raupenbahn, Marlies im Wagen und den Regisseur davor. Das erinnert sie doch an etwas ... genau! Schützenfest! Als dieses kleine, nichtssagende Biest sie von ihrem königlichen Thron gestoßen hat! Ein Fausthieb wider ihre Eitelkeit.
»Nicht schon wieder!«
Moniques heller Schrei bringt mehrere Glühbirnen zum Platzen. Der Regisseur schwankt zwischen Flucht und Todesstarre, die gegenläufige Konstellation führt dazu, dass er eine ruckartige, unvorsichtige Bewegung macht – und ins Wanken gerät!
Nicht schon wieder , denkt Marlies, als sie sieht, dass der Regisseur den Halt verliert – und sie damit den Glauben an ihre Allmacht und ihre übersinnlichen Fähigkeiten. Sie ist kurz davor, in sich zusammenzusinken wie eine schlappe Luftmatratze, geknickt wie die Sofakissen ihrer Mutter. Doch seit sie Die Steckrübe geschrieben hat, ist sie nicht mehr dieselbe. Man kann nicht mehr alles mit ihr machen! Wenn sie jetzt eine Handgranate dabeihätte, wäre Monique schon bald Konfetti aber das würde dem Regisseur nicht helfen.
Statt also mit imaginären Handgranaten herumzuwerfen, greift Marlies mit beiden Händen nach dem Arm des Regisseurs. Sie ...
Sie erwischt ihn!
Marlies spürt, wie ihr gleichzeitig heiß und kalt wird. Sie meint, aus weiter Ferne einen Tusch zu hören. Vielleicht ist es auch nur der Jubel von Hanna, Petra und Tina, die sie kurz sieht, als der Wagen an ihnen vorbeibrettert. Ist ja auch vollkommen egal. Sie hat den Sturz des Regisseurs verhindert!
Allerdings musste sie dabei ihre Handtasche loslassen, die nun statt seiner Opfer der Fliehkraft und nach draußen geschleudert wird. Im Flug öffnet sich die Tasche und gibt ihren Inhalt preis: Nebst Geldbörse, Gummibändern, Tampons, Lipgloss, Taschentüchern, einem Nutellaglasdeckel und einem CS-Gas-Spray auch ein Stift und einige Schulhefte. Eng vollgeschriebene Schulhefte, die niemand, wirklich niemand lesen darf – und auf keinen Fall eine von den Landfrauen!
Mit einem lauten Knarzen schließt sich das Verdeck der Raupenbahn. Marlies und der Regisseur sitzen im Dunkeln.
»Vielen Dank! Sie haben mir das Leben gerettet! Ich stehe tief in Ihrer Schuld!«, flüstert der Regisseur, noch ganz zittrig bei dem Gedanken, dem Tod nur knapp von der Schippe gezerrt worden zu sein. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
Sie will schon antworten: Sie können mich küssen , aber erstens würde sie sich nie trauen, so etwas zu sagen, zweitens ist etwas anderes viel, viel dringender. Ja, er kann wirklich etwas für sie tun. Erstaunlicherweise fällt es Marlies gar nicht schwer, ihm das zu sagen. Sie hat ihm schließlich das Leben gerettet, da gibt es keinen Grund mehr, übermäßig schüchtern zu sein. Es ist, als hätte sich in ihr eine Fessel gelöst. Vielleicht ist es aber auch nur die Angst vor dem Skandal, der sie zum Reden bringt: »Sie müssen mir helfen, meine Tasche in Sicherheit zu bringen und vor allem die Hefte! Bitte, tun Sie was!«
Der Regisseur ist außer sich. Sie ist es also, die anonyme Autorin! Oh, wie faszinierend! Wie inspirierend! Wie erregend! Wie gerne würde er diesen Moment mit ihr allein im dunklen Versteck noch ein wenig genießen, aber ihre Bitte klang so eindringlich, dass er das Raupenbahnverdeck am Rand greift und nach oben aufstemmt. Hand in Hand springen Marlies und der Regisseur vom fahrenden Karussell, landen sicher und laufen zu den verstreuten Heften. Monique, der ein Heft genau vor die Füße geflattert ist, will sich gerade bücken, doch der Regisseur landet mit einem Hechtsprung vor ihr. Das lenkt sie von dem Karopapier auf dem Boden ab, sie wirft sich in Pose und fragt: »Na, wie finden Sie mich? Man sagt, ich sehe aus wie eine Kreuzung aus Marilyn Monroe und Charlize Theron.«
»Eher wie Dolly Parton und eine Sumpfralle«, erwidert die kahlköpfige Produktionsassistentin, die versucht, ihre abtrünnigen Statistinnen wieder in den Saal
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