Frischluftkur: Roman (German Edition)
Trecker im Eis eingebrochen ist. Und eigentlich jedes Mal, wenn er nach Hause kommt.
Die fremde Frau war noch nie da. Was will die von ihm? Ihre Gebote machen ihm Angst. Man hört ja so viel von Mädchen, die in einen Harem verschleppt werden und nie wieder auftauchen. Vielleicht kann das im Zuge der Gleichberechtigung Männern auch passieren? Wundern würde ihn das nicht.
Verängstigt guckt er von Wilma zu der Fremden und zurück. Er könnte schreiend von der Bühne rennen, dann wäre das grausame Spiel vorbei. Aber etwas hält ihn, mehr als seine zittrigen Beine. Es ist die neue Sicht auf Wilma. Mit jedem Blick und jedem Gebot scheint sie sich zu verändern. Nur ein ganz kleines bisschen zwar, aber immerhin. Wie eine Zwiebel, die man schält, nur schöner. Zitterkalle steigen Tränen in die Augen. Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass Wilma mich ersteigert, betet er, obwohl er gar nicht an Gott glaubt. Oder nur, wenn ihm wirklich nichts anderes mehr einfällt.
***
Die Diamanten reizen die Nervenenden an Wilmas Daumen – so gut sie das durch die Hornhaut, die über all die Jahre vom vielen Rubbeln entstanden ist, noch können. Dreihundertfünfzig Euro. Sie müsste vierhundert bieten, aber die hat sie nicht. Ob sie einfach bluffen sollte? Aber man muss sofort bezahlen, bar, das sind die Regeln. Ihr Bluff würde schnell auffliegen, sie würde Zitterkalle an die Konkurrentin abtreten müssen. Ob sie jemanden anpumpen könnte? Sie blickt sich suchend um. Wo ist denn die Dicke aus der Sparkasse geblieben? Die hat doch bestimmt viel Geld dabei. Aber die ist nicht mehr zu sehen. Soll sie vielleicht die jungen Landfrauen – aber nein, das ist ihr zu peinlich. Um Geld bitten zu müssen! Was für eine Vorstellung! Als ob sie das nötig hätte. Aber hier ist nicht Tchibo oder der Aldi, hier geht es um eine Summe, mit der sie vorher einfach nicht gerechnet hat. Und leider, das muss sich Wilma eingestehen, geht es für sie um viel mehr als um ein kleines befriedigendes Shopping-Erlebnis. Zitterkalle ist kein Schnäppchen. Und das steigert seinen Wert in Wilmas Augen nur noch. Er scheint ihr so unerreichbar wie nie zuvor, und nicht nur deshalb will, ja, muss sie ihn unbedingt haben. Sie zerrt an ihrer Kette, die sich in den feinen Härchen im Nacken verfängt und ein paar davon ausreißt.
»Ich biete diesen Anhänger«, ruft Wilma und hält ihn hoch, soweit es die Kette zulässt. »Echtgold mit Diamanten, ein Erbstück, alt und wirklich wertvoll! Das ist mein Glücksbringer«, fügt Wilma hinzu, um sich selbst und allen anderen klarzumachen, welche Bedeutung dieses Gebot hat.
Und wenn die andere sie jetzt überbietet? Eine Rolex vom Handgelenk schüttelt? Zutrauen würde Wilma ihr das. Sie dreht sich nach der Konkurrentin um –
– doch die ist verschwunden! Mitsamt Helmut und Walter, ihrer Beute.
»Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten«, kreischt Monique begeistert und schlägt mit dem Hammer wild auf das Stehpult.
Der Hammerkopf löst sich und schnellt haarscharf an Zitterkalles Kopf vorbei. Doch das ist ihm egal. Jetzt darf er runter von der Bühne, endlich zu Wilma. Das scheint ihm wie eine Erlösung. Sie ist seine Retterin. Auch Superhelden wie er brauchen mal Unterstützung. Er fühlt sich innerlich wieder stark. Er wird gewollt. So sehr, dass Wilma ihn sogar gegen ihren Talisman eintauscht. Ein Mann gegen einen Talisman – eigentlich kein schlechtes Geschäft.
Zitterkalle stolpert auf Wilma zu, die sich inzwischen bis ganz nach vorne durchgekämpft hat. Das gerade noch johlende Publikum verstummt.
Am Bühnenrand geht er auf die Knie. Vor ihr auf die Knie, die immer noch zittern. Er reicht ihr beide Hände. Seine sind dünn und trocken wie Geldscheine, sie liegen ganz leicht zwischen Wilmas fleischigen Fingern und flattern wie kleine Vögel. Zitterkalle beugt sich nach vorne, sein Gesicht nähert sich Wilmas. Sie sehen sich an, erst tief in die Augen, dann darum herum, sehen Kummer, Leid, Sehnsucht und Freude in den feinen und nicht ganz so feinen Linien ihrer Gesichter. Zitterkalle kommt immer näher, langsam wie ein Traktor auf das Scheunentor bewegt sich sein Mund auf Wilmas zu. Beide wissen: Gleich beginnt die Zukunft. Der bessere Teil ihres Lebens.
Und niemand kann sie mehr stoppen.
»Danke, Wilma«, flüstert Zitterkalle, bevor er seine Retterin küsst.
14. Kapitel:
Der Wachtelkönig
Immer noch Freitag, 16. September
»Ich kenn die Frau wirklich!«, sagt Petra schon wieder.
»Pscht!«, zischen
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