Frischluftkur: Roman (German Edition)
Fernsehen immer so schön ruhig und entspannt aus und bekommen alles, was sie wollen, auch die ganz großen Portionen. Nun ist Zitterkalle nicht wirklich eine große, sondern eher eine halbe Portion, aber Wilma will ihn unbedingt haben. Das Verlangen ist stärker als nach Schokolade, einem Likörchen und als nach dem neuesten Tratsch. Wenn sie Zitterkalle hätte, dann müsste sie nicht mehr am Zaun stehen, dann würde sie sich gar nicht mehr dafür interessieren, was die anderen Leute so machen, glaubt sie. Ehekrisen, Affären, Autounfälle, tödliche Krankheiten – all das wäre ihr egal. Sie wären sich selbst genug.
***
Zitterkalle hat jetzt schon genug. Im Gegensatz zu Walter kann er seinen Auftritt nicht genießen. Erstens ist ihm das zu fremdbestimmt und zweitens hat er eindeutig zu wenig getrunken, um die Schwelle zwischen Schüchternheit und Wagemut zu überschreiten. Genauer gesagt: Die Schwelle ist noch nicht mal in Sicht, so weit befindet er sich auf der schüchternen Seite.
»Der Mann hat Rhythmus im Blut ... äh, im Mund«, verkündet Monique, die Zitterkalles Zähneklappern als musikalische Showeinlage missverstanden hat.
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Wilma überlegt kurz: Soll sie taktieren? Sich zurückhalten? Andere Gebote abwarten?
Da hebt die fremde Frau aus der letzten Reihe schon die Hand. Sie bietet fünf Euro.
»Zehn«, ruft Wilma hektisch. Ihr ist klar, dass sie hier nicht geduldig wie eine Boa constrictor auf ihre Beute warten kann.
»Zwanzig«, sagt die Fremde mit der Sonnenbrille kühl.
»Dreißig«, ruft Wilma. Ihr Gesicht ist mit hektischen Flecken überzogen, sie fährt sich nervös durch die Haare.
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»Was will die Fremde denn mit Zitterkalle?«, fragt Marlies alarmiert.
»Eben, die hat doch schon Helmut und Walter, für einen flotten Dreier reicht das«, empört sich Tina.
»Woran du immer denkst«, sagt Hanna.
»Mir kommt die wirklich irgendwie bekannt vor«, sagt Petra.
»Dann los«, ordnet Marlies mit fester Stimme an, die ihre Freundinnen sofort aufspringen lässt. »Wir gehen näher ran.« Es geht hier immerhin um einen ihrer wenigen Freunde. Da kann sie sich Schüchternheit nicht leisten.
Unauffällig pirschen sich die vier erst zum Tresen vor und dann von hinten an die Unbekannte heran.
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Die Gebote gehen mittlerweile in Fünfziger-Schritten voran und liegen bei zweihundertfünfzig Euro.
»Dreihundert«, bietet Wilma mit schwacher Stimme. Das ist ihr Limit. Mehr hat sie nicht dabei. Und wenn die Fremde sie jetzt überbietet? Die scheint ja Taschen voller Geld zu haben. Vielleicht ist sie eine reiche Erbin? Eine erfolgreiche Geschäftsfrau? Wilma will sich nicht zu viele Gedanken über ihre Konkurrentin machen, sie bekommt davon einen bitteren Geschmack im Mund. Am liebsten würde sie hingehen und der Frau eine Tüte über den Kopf stülpen, damit die endlich still ist. Aber erstens hat Wilma gerade keine Tüte dabei, zweitens weiß sie, dass das selbst angesichts der oft rauen Sitten im Dorf ein wenig zu weit gehen würde (es sei denn, sie nähme eine Papiertüte) und drittens wäre sie einfach zu langsam.
»Dreihundertfünfzig«, bietet die Dame am Ende des Saals. Helmut und Walter gucken verwirrt. Warum sie ersteigert wurden, das ist jedem von ihnen klar, sie sind eben tolle Hechte. Aber was will die bloß mit Zitterkalle? Das fragen sich so einige im Saal, zumindest die, die nach gefühlten neunzehntausendfünfhundertsechsundsechzig Orgasmen noch ansatzweise klar denken können.
Wilma fragt sich gar nichts. Ihre Haut ist feucht und kribbelt, sie ist kurz davor, sich ihre Sonntagskittelschürze vom Leib zu reißen. Wenn es denn helfen würde. Verzweifelt fährt sie mit den Händen über den glatten Stoff, Margeriten über blauen Karos, vergräbt kurz die Hände in den Taschen, hält diese Pose nicht aus, greift dann wieder unbewusst zu ihrer Kette. Mit dem Daumen rubbelt sie über die Diamanten.
***
Zitterkalle wird ganz schwindelig. Der Bieterwettkampf zwischen Wilma und der Fremden nimmt ihm den ohnehin schon röchelnden und zischenden Atem fast ganz. Der Mann pfeift auf dem letzten Loch. Das ist einfach zu viel für ihn. Immer, wenn Wilma bietet, wird ihm ganz warm. Wilma, seine Nachbarin! Die vom Gartenzaun. Auf die Frau ist Verlass , denkt Zitterkalle. Die ist immer da. Zwar hat er sie bislang nur am Rand wahrgenommen, aber wenn er seine Erinnerungen durchgeht, dann hat sie in fast jeder mindestens eine kleine Statistenrolle. Auf allen Feuerwehrbällen. Als er mit dem
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