Frischluftkur: Roman (German Edition)
lauschen. Da ist es wieder: Kreek-Kreek.
»Ein neuer Klingelton?«, mutmaßt Tina.
»Nein, das ist der Wachtelkönig«, sagt Hanna. »Habt ihr damals in Sach- und Naturkunde nicht aufgepasst? Der Wachtelkönig, lateinisch Crex crex, ist etwas größer als Wachteln. Manchmal ist er auf dem Heimzug aus den Überwinterungsgebieten gemeinsam mit diesen zu sehen. Deshalb dachten die Leute, er sei der König der Wachteln, eben der Wachtelkönig. Treffender ist da die Bezeichnung Wiesenralle: Der Wachtelkönig ist eine Ralle und lebt auf der Wiese«, doziert sie. »Ich kann sogar noch das Gedicht von Eugen Roth auswendig: Die Wiesenralle, Knarrer, Schnärz, / Kommt erst im Mai anstatt im März «, legt sie los. »Als Wachtelkönig, als crex-crex, / Hat sie viel Namen, beinah sechs./ Ihr Nest macht sie im grünen Gras, / Als wäre sie der Osterhas. « Hanna legt eine kurze Kunstpause ein und sammelt sich für die dramatische Entwicklung, die nun kommen soll. »Die Kinderliebe lässt zu fest / Sie manchmal sitzen auf dem Nest: / Den Bauern merkt sie erst zu spät. « Hanna atmet bedeutungsschwanger. »Drum wird sie oft mit abgemäht.«
»Wie grausam! Das arme Vögelein«, schluchzt Tina.
»Aber das passt auch auf uns«, sagt Marlies.
»Wie bitte?«, antworten ihre Freundinnen wie aus einem Munde.
»Wir haben doch gar keine Kinder«, wirft Hanna ein.
»Aber wir sind wie welche«, entgegnet Marlies. »Wir haben die letzten Monate damit vergeudet, unsere Nachbarn auszukundschaften. Dabei müssen wir den Bauern – oder wen auch immer – übersehen haben. Und dafür zahlen Walter und Heinrich jetzt vielleicht.« Marlies schluckt. Nicht nur, weil sie so viele Sätze hintereinander lange nicht gesprochen hat – außer natürlich mit ihrem Regisseur –, sondern auch, weil ihr bewusst wird, dass sie gerade einer irgendwie gearteten größeren Wahrheit auf die Schliche gekommen ist. »Und nun weiter. Bevor wir auch noch abgemäht werden.«
Still, jede mit ihrer Furcht allein, begleitet vom unmelodisch knarrenden Ruf des Wachtelkönigs, gehen sie weiter, bis sie an ein großes Metalltor gelangen. Rechts und links an das Tor schließt eine hohe Mauer an, die mit Stacheldraht garniert ist. »Das ehemalige Nato-Munitionsdepot«, sagt Hanna. »Sollte das nicht ein Gefangenenlager für Taliban-Kämpfer werden?«
»Das hatten die sich im Gemeinderat so schön überlegt, um den Tourismus anzukurbeln. Aussichtsplattformen wollten sie bauen, rund um das Gefangenenlager. Und die Taliban hätten auch gleich den Bauern bei der Spargelernte helfen können. Aber irgendwie ist nichts daraus geworden«, sagt Petra. Sie rüttelt am Tor. Es ist verschlossen.
»Und nun?«, fragt Hanna.
»Ich glaube, da ist jetzt eine Champignonfarm drin«, sagt Petra.
»Nee, Chicoree, hab ich gehört«, widerspricht Tina. »Von Salatbauer Montag.«
»Ich meinte eigentlich: Was machen wir nun?«, fragt Hanna noch einmal.
»Folgt mir«, sagt Tina. »Es gibt einen Geheimeingang.«
»Woher weißt du das?«, fragt Petra.
»Ich hatte doch mal was mit einem aus der Friedensinitiative. Nur ganz kurz.« Tina ist das ein wenig peinlich.
»Mit einem dieser langhaarigen Jesuslatschenträger?«, empört sich Hanna.
»Ja«, antwortet Tina, »das waren doch ganz andere Zeiten damals. Die Jungs aus dem Dorf waren alle gerade beim Bund. Was sollte ich denn machen? Es war so langweilig. Und immerhin weiß ich jetzt, wie wir da reinkommen.«
»Nee, bevor ich durch so einen össeligen Öko-Geheimgang krieche, klingele ich lieber«, sagt Hanna und drückt, bevor ihre Freundinnen sie davon abhalten können, auf den Knopf neben dem Tor.
Eine Sekunde später schwingt es auf. Dahinter kommt eine Gestalt zum Vorschein.
Edith!
»Auf euch habe ich gewartet«, sagt sie freundlich. »Ich habe da ein wunderbares Angebot für euch, weil ihr mir so gute Dienste geleistet habt. Kommt doch herein!«
Tina, Petra, Hanna und Marlies sind baff.
»Danke, eigentlich brauchen wir gar nichts mehr«, sagt ausgerechnet Hanna, die sonst immer für ein Putzmittelschnäppchen zu haben ist.
»Kommt doch erst mal rein und hört, was ich euch zu sagen habe. Käffchen?«, fragt Edith charmant. »Ich möchte euch auch jemanden vorstellen.«
»Du bist es!«, ruft Petra aus. »Du bist die fremde Frau, die Helmut und Walter entführt hat!«
»Entführt?«, fragt Edith scheinheilig. »Wovon redet ihr? Ich habe die beiden ersteigert. Lustig, so eine Junggesellenversteigerung. Tolle
Weitere Kostenlose Bücher