Frischluftkur: Roman (German Edition)
Jackentasche zu zerren, doch weil die Vize-Miss-Wet-T-Shirt auf ihm liegt und erstaunlich viel wiegt, gelingt ihm das nicht.
Ritschie fällt ein, dass ihm dieses kleine Fledermausmädchen mit den Spinnwebhaaren und dem seltsamen Namen eine CD gegeben hat. Die zieht er hervor, während er schwungvoll auf die Landstraße einbiegt. Er schneidet die Kurve, klar, warum auch nicht, er kennt den Weg. Und zu dieser Zeit kommt ihm hier sowieso niemand entgegen, das weiß er sicher. Er fühlt sich gut, souverän, er ist der King. Ich bin der König der Welt! Dieser Satz geht ihm durch den Kopf, er würde ihn gerne mal schnell rausbrüllen. Doch dann erinnert Ritschie sich, wo er den gehört hat: In diesem Kitschfilm Titanic, den er damals heimlich geguckt hat. Keine gute Idee, seinen Freunden das auf die Nase zu binden. Stattdessen fummelt er die CD von der kleinen Fledermaus aus der Tasche und legt sie ein. Dabei schlingert der Wagen etwas, die Mädchen kreischen und es kommt Stimmung auf. »Pass auf«, schreit Miss-Wet-T-Shirt und krallt sich im Sitz fest. Selbst ein Tauber kann hören, dass sie eigentlich Du bist ein wilder Stier meint.
»Alles im Griff! Ich zeig euch jetzt mal, was die Kiste kann!« Ritschie verleiht dieser Aussage mit einem lauten Rülpser mehr Gewicht und tritt dann fest auf das Gaspedal. Zackig schaltet er Gang für Gang höher. Warum kommt da keine Musik? Er fummelt am Radio herum. Da, endlich.
»Hang the DJ, hang the DJ, hang the DJ«, singt eine helle, weiche Stimme.
»Bäääh, was ist das denn für ein Geheule!«, beschwert sich Lars.
Verfickter Schwuchtelchor!«, befindet Jochen.
»Ausmachen, ausmachen!«, fordert die Miss, die Möchtegern-Misses stimmen ein.
Doch Ritschie merkt, wie ihn die Klänge aus dem Lautsprecher eigenartig berühren. Als wäre es die Stimme seiner eigenen Sehnsucht. Die Musik gefällt ihm. Dieses Schwere, Düstere, Trotzige, verbrämt mit einer süßen Melodie. Er denkt an das Mädchen. Wie hieß sie noch gleich? Hell? Bescheuerter Name, wirklich. Aber sie hatte schöne rote Lippen.
***
Das Rot auf Helgas Lippen –Chanel No. 1 aus der Schublade ihrer Mutter – ist inzwischen ziemlich verblasst. Sie hat die Angewohnheit, auf der Unterlippe herumzuknabbern, wenn sie sich Gedanken macht. Und das tut sie gerade ausgiebig: schwere, düstere, trotzige, alle zum Thema: Was wäre wenn?
Wo bleibt überhaupt Ritschie? Sollte sie langsamer gehen? Da vorne müsste schon der Trecker von Zitterkalle stehen – sehen kann sie ihn nicht, aber ahnen. Ihr Plan scheint nicht zu funktionieren. Muss sie etwa zurück zum Schädel marschieren?
Plötzlich hört sie Motorengeräusch. Ein Auto, das sich sehr schnell von hinten nähert. Ritschie! Endlich!, denkt Helga und dreht sich wieder um. Er soll sie sehen, er soll anhalten. Doch der Wagen wird immer schneller. Zwei Scheinwerfer kommen in rasendem Tempo auf sie zu.
***
»Ruhe auf den billigen Plätzen!« Ritschie ist genervt.
»Ausmachen, ausmachen«, jault es von hinten und vom Beifahrersitz. Miss-Wet-T-Shirt streckt die Hand nach der Anlage aus und fängt an, daran herumzufummeln.
»Lass das!«, fährt Ritschie sie an. »Finger weg! Der Fahrer bestimmt die Musik!«
Doch die Miss hört nicht auf ihn. Er versucht, ihre Hand wegzuschlagen.
»Uhhh, Süßer, willst du zudringlich werden?«, flirtet die Miss ungeschickt und beugt sich zu Ritschie rüber, um ihn zu küssen. Die CD springt zum nächsten Lied. »And if a double-decker bus crashes into us ...«, singt die Stimme.
Moment, denkt Ritschie, steht da nicht am Straßenrand das Mädchen mit den schwarzen Haaren? Wie hieß sie noch?
Das Gesicht des Mädchens leuchtet weiß im Lichtstrahl der Scheinwerfer. Sie sieht unwirklich aus, wie ein Geist oder wie das schlechte Gewissen aus der Weichspüler-Werbung. Vor Schreck springt sie in den Graben.
Im nächsten Moment erfasst der Lichtkegel etwas Großes, was halb auf der Straße steht. Ist das ein Trecker?
»Ihhhhhh«, kreischt die Miss.
Bremsen, denkt Ritschie und weiß instinktiv, dass sein Fuß zu langsam sein wird. Ausweichen! Er reißt das Lenkrad herum. Knapp schrammt der BMW an dem alten Trecker vorbei.
»Geiler Stunt, Alter!«, grölt Lars.
Der Wagen schießt über den schmalen Graben auf der anderen Straßenseite.
Hell , denkt Ritschie. Sie heißt Hell.
Der BMW hebt ab, fliegt für den Bruchteil einer Sekunde –
– und knallt frontal gegen eine Eiche. Der einzige Baum weit und breit. Dick, solide, bestimmt
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