Frischluftkur: Roman (German Edition)
musste erst dieser Junge verunglücken. Nun ja. Des einen Leid war schon immer des anderen Freud. Mitleid ist ein Gefühl, das Edith für überbewertet hält. Sie will Erfolg haben, keiner darf ihr im Weg stehen. Inez von Gravenberg ist ihr großes Vorbild. Die hat es geschafft, die ist reich und mächtig. Da will Edith auch hin. Sie ist bereit, alles dafür zu tun. Auch wenn das im Moment eher nerviger Kleinkram ist. K.o.-Tropfen besorgen. Gut, wenn es sein muss. Das verspricht wenigstens ein bisschen Abwechslung vom auf Dauer doch recht langweiligen Auswerten der Überwachungsbänder. Seit Tagen sitzt sie in ihrer Schaltzentrale – eigentlich ist es ihr Wohnzimmer, aber zum Wohnen hat Edith keine Zeit – und studiert Aufnahmen aus dem Dorf. Zugegeben, da sind ein paar amüsante Szenen bei. Die Zwischenfälle bei den Nagel-Tattoo-&- Piercing-Days in Moniques Salon waren recht erheiternd. Monique bot als besonderes Extra Zehennagel-Piercing mit Swarovski-Anhängern, die ursprünglich als Handy-Anhänger gedacht waren. Dass die in keinen geschlossenen Schuh hineinpassen, das hatte sie einkalkuliert, schließlich ist Sommer und Sandalensaison. Sie hatte allerdings nicht bedacht, dass die Anhänger zur fiesen Stolperfalle werden würden. Als das nach ein paar Versuchen klar wurde, disponierte sie um und setzte den Schmuck nur noch im Fingernagelbereich ein. Dort stört er zwar, obwohl stoß- und wasserfest, bei der Hausarbeit, aber ein wenig Zugeständnisse muss man schon machen, wenn man gut aussehen will. Findet jedenfalls Monique. Was Monique alles so findet, das weiß Edith inzwischen in- und auswendig. Trends hin und her, Gala und Bunte hoch und runter und vorwärts und rückwärts – zwischen diesem Lifestyle-Gequatsche versteckt sich immer wieder die eine oder andere entscheidende Information, und die gilt es herauszufiltern. Steuerhinterziehung, Versicherungsbetrug, Schwarzarbeit, Seitensprünge, dunkle Familiengeheimnisse, ein bisschen Dreck hat jeder am Stecken. Und den will Edith finden. Edith fährt in die Konzernzentrale. In den Gängen und der Eingangshalle funkeln neue Lichtinstallationen aus Tausenden von Glühbirnen. Edith kneift leicht geblendet die Augen zu und denkt: Wer soll die denn alle wechseln? Bei dem Gedanken fällt ihr auf, dass sie in der Zentrale noch nie gesehen hat, wie jemand Glühbirnen wechselt. Sie hat aber auch noch nie gesehen, wie jemand die Fenster putzt oder den Boden wischt. Das wird der Raumpfleger-Trupp in den frühen Morgenstunden machen, sagt sie sich und verflucht, dass sie jetzt ständig an solche Hausfrauenthemen denken muss.
Im Labor lässt sie sich K.O.-Tropfen zusammenstellen, dann geht sie weiter zu Inez von Gravenberg. Die Chefin hat um einen Zwischenbericht gebeten.
»Stopp«, sagt Inez von Gravenberg mit befehlsgewohnter Stimme. »Spulen Sie noch einmal zurück, Edith. Ja, genau dahin. Wer ist das?«
Edith zuckt mit den Schultern. »Das ist doch nur Marlies.« Sie kann sich nicht vorstellen, was ihre toughe Chefin ausgerechnet am dorfeigenen Mauerblümchen interessiert. Ahnt nicht, was in Inez von Gravenberg vorgeht, als sie die Aufnahmen von Marlies sieht.
Der alleinverantwortlichen Geschäftsführerin des multinationalen Mischkonzerns wird ganz melancholisch zumute. Dieser meist leicht verwundert geöffnete Mund, die defensive Körperhaltung, das Schweigen, all das erinnert sie an die verschüchterte Frau, die sie selbst einmal war. Ein ungeschliffener Diamant! Inez von Gravenberg verspürt das dringende Bedürfnis, Marlies aus dem Dorf herauszuholen, ihr eine neue Perspektive zu bieten. Halb aus Mitleid, halb aus dem Drang, sie nach ihren Vorstellungen zu formen. Sie malt sich aus, wie Marlies sie bewundernd anschaut und ihr unendlich dankbar für alles sein wird.
Edith erhält von Inez von Gravenberg ein aufbauendes Lob und neue Instruktionen und fährt dann ins Dorf, um die K.o.-Tropfen zu übergeben und ein paar Kameras neu zu justieren. Diskret, natürlich.
***
Beim Feuerwehrball beendet gerade die Showband Tiffany mit einem Trommelwirbel ihre eigenwillige Interpretation des Marianne-Rosenberg-Hits Er gehört zu mir , als Jules Kopf nach vorne auf den Tisch sackt, genau zwischen zwei Schnapsgläser. Vorher hat sie ein paar Minuten wirres Zeug geredet, was nicht weiter auffiel, weil die Kommunikation beim Feuerwehrball selten ein anspruchsvolles Niveau erreicht. Man kann schon froh sein, wenn man mal einen ganzen Satz versteht.
»Das ging ja
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