Frischluftkur: Roman (German Edition)
noch straffer nach hinten gereckt und sich den glatten Pagenkopf ein wenig glatter gestrichen. Doch nun gelingt es ihr einfach nicht, Marlies zu diesem Seminar zu bewegen. Sie soll ja schließlich freiwillig kommen. Auf all die verlockenden Einladungen reagiert sie einfach nicht. Zunächst hat Edith gedacht, das kleine Mauerblümchen wäre zu schüchtern, um den Anrufbeantworter abzuhören. Aber die neu aufgenommene Bandansage beweist, dass Marlies offensichtlich keine Angst vor dem Umgang mit der Technik hat. Überhaupt scheint sie weniger ängstlich und schüchtern zu sein.
***
Marlies sammelt die Seminareinladungen in einer Schublade. Wer weiß , denkt sie, vielleicht brauche ich das irgendwann ja doch noch mal. Aber im Moment möchte sie auf gar keinen Fall ein anderer Mensch werden oder ein neues Ich entdecken. Jedenfalls nicht mit fremder Hilfe, zweifelhafter noch dazu. Sie spürt, dass sie schon auf dem richtigen Weg ist. Auf dem Weg zu sich selbst. Vielleicht sollte sie Edith das klipp und klar sagen? Die kommt ja morgen ins Dorf, weil Hanna, Tina und Petra mit ihr über das merkwürdige Verhalten ihrer Männer sprechen wollen.
»Macht euch keine Gedanken, das ist vollkommen normal. Ein integraler Bestandteil des Seminars, so ein bisschen wie Hausaufgaben, die von den Männern noch erledigt werden müssen. Gehört alles zum Aufmerksamkeits- und Feinmotoriktraining«, erklärt Edith. »Die sogenannten Soft Skills, also die femininen Seiten der Seminarteilnehmer, werden gestärkt, um die Harmonie zwischen den Geschlechtern zu fördern. Eure Männer loten gerade ihre innere Frau aus. Und wenn sie damit fertig sind, werden sie wieder wie früher ... nur eben besser. Ausgeglichener. Vollkommener.«
Die Freundinnen nicken. Was soll man dagegen schon sagen.
»Aber die Männer sind so seltsam«, begehrt Hanna doch noch einmal auf. »Wie ferngesteuert.« Sie kann sich ja schlecht darüber beklagen, dass Heinz putzt.
»Phasenweise kann es bei der Aneignung der Soft Skills zu Überreaktionen kommen, dem sogenanntem Overachievement. Das ist aber, wie gesagt, vorübergehend. Ich hake auch gerne mal bei unserem Seminarzentrum in Bielefeld nach«, beruhigt Edith die Freundinnen.
Trotzdem bleiben die vier ein wenig misstrauisch zurück.
»Bielefeld. Sie hat Bielefeld gesagt«, sagt Petra.
»Na und?«, fragt Tina.
»Ich habe neulich im Fernsehen eine sehr interessante Sendung gesehen. Da hieß es, Bielefeld sei nur erfunden. Eine Schein-Stadt. In Wirklichkeit gibt es Bielefeld gar nicht«, sagt Petra.
»Du sollst nicht immer so viel Privatsender gucken«, mahnt Hanna.
»Das war im Ersten Programm«, verteidigt sich Petra. »Und: Kennst du jemanden aus Bielefeld?«
»Natürlich kenne ich niemanden aus Bielefeld«, antwortet Hanna.
»Siehst du!«, triumphiert Petra.
»Niemand von uns kennt jemanden aus Bielefeld«, meldet sich Marlies ruhig zu Wort.
»Ja, genau!«, ruft Petra.
»Wir kennen doch sowieso kaum Leute außerhalb des Dorfes – und der Nachbardörfer vielleicht noch. Uns könnte man auch erzählen, dass es München nicht gibt. Kennt eine von euch jemanden aus München?«, fragt Marlies in die Runde. Sie verschweigt lieber, dass ihr Verlag dort ansässig ist.
Kopfschütteln.
»Siehst du«, übernimmt Hanna wieder. »Du wirst doch nicht an solche verschwurbelte Verschwörungstheorie glauben? Außerdem ist es doch völlig egal ob es Bielefeld nun gibt oder nicht.«
»Das sagst du so. Die armen Bielefelder sehen das bestimmt anders«, sagt Petra etwas mürrisch.
»Wie sollen die das schon sehen – die gibt es doch gar nicht.«
Die Erheiterung kann über eins nicht hinwegtäuschen: Edith wird den Freundinnen langsam suspekt. Sie weiß auf alles immer viel zu schnell eine Antwort, meistens eine, die sie nicht ganz verstehen. Aber sie trauen sich auch nicht, nachzufragen und sich diese Blöße zu geben. Außerdem haben sie Edith so viel zu verdanken: die ganze Überwachungstechnik, ihr neues Selbstbewusstsein, seit sie wissen, dass Monique und ihr Hofstaat auch nur mit Wasser kochen. Das tolle Gefühl, über alles Bescheid zu wissen. Ja, manchmal kommen sie sich schon wie frisch dem Schaum entstiegene Göttinnen vor, die das Geschehen in ihrer kleinen Welt überwachen und, wenn es nötig ist, mit gütiger Hand eingreifen.
Hanna und Tina sind immer noch glücklich darüber, die Liebe von Romeo und Jule gerettet zu haben. Tina entdeckt dadurch eine neue Berufung: ein Liebesengel will sie sein, eine
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