Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
egal. Was sagte sie? Lassen Sie die Polizei aus dem Spiel. Genau das würde ich tun. Ich hatte gar keine andere Wahl. Ihretwegen.
Auf meinen Knien lag der Aktenkoffer. Es waren Arztbriefe und Gutachten schwer traumatisierter Flüchtlinge darin. Berichte von Flüchtlingen über ihre Erfahrungen mit Martha Klein. Gerichtsurteile der 35. Kammer des Verwaltungsgerichts in Berlin gegen den Polizeiärztlichen Dienst. Martha Klein arbeitete beim Polizeiärztlichen Dienst als Psychologin. Sie hatte vom Innensenator den Auftrag, schwer traumatisierte und fachärztlich begutachtete Flüchtlinge, die eine Duldung hatten wegen ihrer Krankheit, neu zu begutachten, um sie unverzüglich abschieben zu können. Martha Klein erstellte Gefälligkeitsgutachten. Das tat sie mit Inbrunst. Sie schikanierte die Traumatisierten mit Bedacht und kalter Heimtücke. Sie machte sie reif für die Abschiebung, indem sie die Menschen zermürbte. Sie genoss ihre sadistische Vorgehensweise. Sie war eine Meisterin im Wiedererwecken von Folterängsten in den Menschen, die der Folter entkommen waren. Das Erzeugen von Panik war ihr Ziel. Selbstmorde nahm sie in Kauf. Mit der Präzision eines Schützen beim Tontaubenschießen versah sie ihr Geschäft. Sie liebte unangemeldete Rundgänge in Unterkünften, in denen Flüchtlinge untergebracht waren, um sie dort zu terrorisieren. Viele Flüchtlinge mussten mit sechs Quadratmetern, die ihnen der Senat zugewiesen hatte, auskommen. Dort wahrten sie mühsam ihr Gleichgewicht. Viele waren der Hölle entkommen. Martha Klein war gut informiert über die Flüchtlinge.
» Ah, Ihr Mann wurde vor Ihren Augen erschossen?«, fragte sie eine Frau aus Bosnien. »Hier, schauen Sie, hier habe ich Fotos von Ihrem Dorf. Ist es da passiert?« Sie verwickelte die Frau in ein verhörartiges Gespräch. Dabei schlug sie mit einem Lineal auf ihre Oberschenkel. Das erzeugte das klatschende Geräusch von Schlägen. Sie tauchte auch in uniformähnlicher Kleidung auf. Mit hartem Stiefelschritt. Quälende Bilder stiegen in den Menschen hoch, überschwemmten sie. Massaker, Vergewaltigungen, Folter. Martha Klein inszenierte die böse Vergangenheit. Sie zeigte Frauen die Fotos ermordeter und verstümmelter Männer. »Schauen Sie genau hin. Ist Ihr Mann darunter?« Die Fotos ausgegrabener Skelette. »Das war doch in Ihrer Gegend?« Es kam zu Zusammenbrüchen. Therapieerfolge bei Fachärzten für Folteropfer wurden zunichtegemacht. »Kommen Sie freiwillig zu mir in den Polizeiärztlichen Dienst, unterschreiben Sie, dass Sie freiwillig gehen und alles hat ein Ende«, sagte sie, »oder ich lasse sie zwangsweise vorführen. Sie kommen in Abschiebehaft. Das geht ganz schnell.«
Willkürliche Übergriffe gegen Flüchtlinge waren an der Tagesordnung. Zwei Beamte wollten den Schulleiter einer Tempelhofer Hauptschule zwingen, einen jugendlichen Flüchtling an sie auszuliefern, um ihn der Abschiebehaft zuzuführen. Der Schulleiter verwies sie des Hauses. Zwei Stunden später nahmen die zwei Beamten einen Schüler der gleichen Schule willkürlich fest, den sie für den Gesuchten hielten. Sie wollten ihn aus dem Unterricht heraus erkennungsdienstlich behandeln. Die anwesende Lehrerin wurde nicht nur völlig ignoriert, sondern eingeschüchtert und mit Schlägen bedroht. Es gelang dem Lehrerkollegium, den unschuldigen Jungen zu befreien. Zivilcourage siegte. Vorfälle dieser Art gab es mehrere.
Eine Frau berichtete, dass sie in den Gängen auf ihren Termin zur Zweitbegutachtung durch Martha Klein wartete, als aus deren Untersuchungszimmer eine Frau ohnmächtig herausgetragen werden musste. Diese Frau war der Wartenden persönlich bekannt. Sie hatte erleben müssen, wie ihre Tochter vor ihren Augen in Bosnien vergewaltigt und ermordet worden war. Als die bislang Wartende den Raum betrat, habe die Polizeiärztin Martha Klein den Vorfall mit den Worten abgetan: »Ach, das war nur gespielt. In Deutschland hat es auch Krieg gegeben. Keine Frau ist krank geworden durch Vergewaltigung.« Deutsche Frauen würden ja auch von Ausländern vergewaltigt, ohne auszuwandern. Krieg gehöre zum Leben. Deutsche Frauen hätten auch Schlimmes erlebt. Durch Arbeit seien sie darüber hinweggekommen. Therapie sei sinnloses Herumgestochere in alten Wunden. Martha Klein sprach von neuar-
tigen Psychopharmaka, die bald auf den Markt kämen. »Die beseitigen jede Folterspur.« Sie nannte sie Wunderwaffe. »Folterungen werden auf einen ambulanten Eingriff reduziert.
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