Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
Vom Netzwerk:
aussahen. Ausflugsschiffe zogen ihre Bahn auf der Spree, die hier einen lang gezogenen Bogen macht. Die Schiffsgäste winkten den Spaziergängern zu. Die winkten zurück. Bald verschwanden sie in der Ferne im Viereck des Fensters der S-Bahn, als würden sie weggezoomt.
    Hin und wieder setzte sich Jean mit einem Glas Weißwein zu mir und sagte:
    »Fritz, was machst du eigentlich?«
    »Wie meinst du das?«
    »Du sitzt doch immer nur rum, liest Zeitung und guckst stundenlang in die Luft.«
    »Ich bin immer ganz intensiv bei der Sache«, sagte ich dann. »Was für ’ne Sache? Wovon lebst du?«
    »Habe ich bei dir jemals meine Rechnung nicht bezahlt?«
    »Nein, nein«, meinte Jean und wurde ganz verlegen, »so meine ich das nicht.«
    »Jean«, sagte ich dann, »ich lebe vom Röntgenblick.«
    »Ja?«, schaute mich Jean verständnislos an.
    »Das habe ich von meiner Mutter gelernt. Anderen das Gefühl zu geben, dass ich bis in die letzte Ritze ihrer geheimsten Wünsche lugen kann wie mit einem Vergrößerungsglas. Dann werden sie unsicher, machen Fehler, merken plötzlich, dass sie immer schon gelogen haben, ein Leben lang, dass sie gescheiterte Existenzen sind, die in einer Scheinwelt leben, dass sie, trotz aller Erfolge, klein, mickrig und hässlich sind. So ein Röntgenblick hat ganz erstaunliche Wirkungen. Der Selbstsicherste wird unsicher. Es gibt nur ganz wenige, die dem Röntgenblick standhalten. Der Röntgenblick ist die Grundlage meines Geschäftsprinzips.«
    »Ich hole uns noch einen Wein«, sagte Jean und kam sofort zurück. »Ja, und dann?«, fragte er neugierig.
    »Die Hälfte deiner Kellner bescheißt dich«, sagte ich.
    »Nie im Leben!«, rief Jean empört.
    »Das sagt jeder, weil es keiner wahrhaben will, dass er beschissen wird«, sagte ich. »Aber jetzt pass auf. Ich nenne es coaching management, das, was ich mache. Hinter die Fassade gucken. Ich beobachte eine mittlere Firma. Ich entdecke Indizien, ich gehe zum Chef und sage, hören Sie, Chef, Sie werden von etwa der Hälfte Ihrer Angestellten beschissen. Untreue, Betrug, Bilanzfälschungen, Diebstahl. Der Chef glaubt mir nicht. Sie riskieren nichts, sage ich, ich coache Ihren Betrieb. Zuerst kostenlos. Honorar bei Erfolg. Ich sensibilisiere Ihre Leute auf alle großen und kleinen Schweinereien. Ich vernetze sie. Ich verleihe ihnen Röntgenaugen. Jeder durchleuchtet den anderen, weil er jetzt alle Tricks vom anderen kennt. Jeder belauert jeden. Jeder erhofft sich etwas. Aufstieg, Karriere, Anerkennung. Jetzt passiert es. Die Betrüger machen Fehler. Sie werden nervös, hektisch, sie wollen ihre ergaunerten Einkünfte nicht verlieren. Sie glauben, ein Anrecht darauf zu haben. So sehr haben sie sich daran gewöhnt. Sie rasten aus, wenn sie in die Enge getrieben werden wie bissige Kanalratten, sie verlieren jede Contenance und man kann sie schließlich aussortieren wie faule Rosinen in einem Schüttelsieb. Nach und nach erholt sich der Betrieb. Ich berechne 3% vom Jahresgewinn nach der Sanierung. Davon lebe ich.«
    »Und wie oft machst du das?«
    »Einmal im Jahr, alle zwei Jahre, je nachdem. Ich könnte mehr machen. Aber ich bin faul. Es ist amüsant, diese Biedermänner zu beobachten, wie sie zu Ratten werden. Es passiert zufällig. Eher planlos. So, wie man zufällig in Hundescheiße tritt.«
    Ich erzählte Jean nicht, dass ich auch schon nahe daran war, von den Ratten in den Gulli gezogen zu werden.
    Warum machst’n du das dann überhaupt?, hätte er dann vielleicht gefragt. Darauf wusste ich keine Antwort.
    Bevor ich losgefahren war, hatte ich in meiner Wohnung die Dokumente geholt, die mir die Rothaarige in dem Aktenkoffer überlassen hatte. Ich hatte sie bisher nicht studiert. Ich fürchtete Ungemach. Davon hatte ich genug. Manchmal hing das Leben an einem seidenen Faden, meines hing an einem roten Haar, das ich im ›Esplanade‹ auf der Schulter eines toten Killers gefunden hatte. Der Auftritt der Rothaarigen war durch und durch inszeniert. Da war nichts ohne Kalkül. Sie hatte mich mit voller Absicht in einen Mordfall hineingezogen, aus dem ich so ohne Weiteres nicht rauskam. Wie sollte ich der Polizei den gelben Koffer erklären, meine Anwesenheit im ›Esplanade‹ zur Mordzeit, und warum markierte ich an der Rezeption einen Italiener? Ich fabrizierte Ausreden. Ich wollte doch nur die Rothaarige wiedersehen. Eine Mörderin, die mir eine Killerbande auf den Hals hetzte. Ich ließ mich auf ein Mörderinnenspiel ein. Sie korrumpierte mich. War mir

Weitere Kostenlose Bücher