Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
Tisch«, sagte sie. »Die Hocker sind mir zu hoch.«
Sie setzte sich und nahm den Fahrradhelm ab. Dann nestelte sie sich die Gürteltasche vom Leibe und fuhr mit beiden Händen durch ihr volles, dunkles Haar, das ihr in Locken über die Schultern fiel. Blaue, große Augen blitzten mich an. Das war ja eine richtige Metamorphose, die vor meinen Augen geschah. Von der Zwergenschwester zur Fee. Das war ja allerniedlichst. Ich rutschte geschwind mit meinem Weinglas vom Hocker runter und setzte mich zu ihr. Sie drückte mir mit einem festen, energischen Händedruck die Hand.
»Vogelweide«, sagte sie mit ihrer vollen Stimme. »Was trinken Sie denn da?«
»Neuhaus«, stellte ich mich vor. »Das ist Grauburgunder. Schön, dass Sie gekommen sind. Sie hatten bestimmt einen anstrengenden Tag.«
»Hatte ich nicht. Nur 120 Kilometer auf dem Rad. Ich fühle mich topfit.« Sie nippte von meinem Glas. »Den nehme ich auch.« Ich winkte Bernd zu.
»Zwei Grauburgunder.«
Bernd nickte zustimmend.
»Dann schießen Sie mal los«, sagte sie. »Was wollen Sie von Martha Klein?«
Ihre burschikose Art stand in völligem Gegensatz zu ihrem Aussehen. Sie hatte einen festen, wachen Blick, der Grenzen respektierte. Nicht durchdringend. Nicht verschreckend. Hallo, hier bin ich, und du bist da. Ich sehe dich. Sagte dieser Blick.
Ich zog die Atteste aus der Innentasche meiner Jacke.
»Ich habe diese Atteste von Ihnen.«
Ich legte sie vor ihr auf den Tisch.
»Woher haben Sie die?«, fragte sie. »Normalerweise unterliegen sie der ärztlichen Schweigepflicht.«
»Von einer rothaarigen Frau, die ich nicht weiter kenne. Kennen Sie sie vielleicht?«
Sie überlegte. »Nein. Aber egal. Frau Klein hat ja die Atteste von fast 800 Patienten an die Kripo weitergegeben. Vielleicht ist Ihre rothaarige Frau bei der Kripo. Da kann die Atteste jeder haben.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht, keine Ahnung. Jedenfalls hat sie mich beauftragt, Frau Klein zu finden. Warum ich sie finden soll, weiß ich nicht. Sie ist verschwunden. Das Komische ist, dass der BND mit in der Sache drinhängt.« Ich erzählte ihr von der Wanzenshow. Sie trank von dem Grauburgunder und setzte das Glas ab. Sie benetzte ihren linken Zeigefinger mit dem Wein und fuhr damit über den Glasrand, bis das Glas in hellen Tönen vibrierte. Dabei schaute sie in das Glas. Dann hob sie den Blick, der jetzt sehr dunkel war.
»Ein Kollege von mir, Egon Nemec, arbeitet im Saarland als Psychiater. Er ist Bosnier. Er betreut traumatisierte Flüchtlinge in einem Flüchtlingslager. In Schlabbach. Es ist ein großes Lager mit weit über 1000 Insassen. Wir korrespondieren regelmäßig. In letzter Zeit, so schrieb er, hätte es bei mehreren seiner Patienten nach guten Fortschritten dramatische Rückfälle gegeben, die er sich nicht erklären könne. Manche Patienten hätten psychotische Reaktionen gezeigt. Andere schienen unter Drogen zu stehen. Andere wären spurlos verschwunden, um plötzlich, völlig verstört, wieder aufzutauchen. Keiner dieser Patienten artikulierte sich. Sie seien völlig verstummt, als stünden sie unter einem Schock.«
Ich musste plötzlich an eine Nachricht aus dem Fernsehen denken. An einen Arzt, der bei Schlabbach tot aufgefunden worden war. Ich erzählte ihr davon. Sie schwieg. Dann fuhr sie fort.
»Er schrieb, dass er diese dramatischen Veränderungen seit zwei Monaten beobachte. Er sei machtlos. Denn inzwischen kämen aus dem Lager keine Patienten mehr zu ihm. Er könne sich das nicht erklären. Aber er wolle herausfinden, was die Gründe dafür seien. Das sei er seinen Patienten schuldig. Ganz besonders verpflichtet fühlte er sich einem Geschwisterpaar aus Bosnien.«
Sie trommelte mit ihrer linken Hand auf die Tischplatte und starrte vor sich hin. Ihr Gesicht war von den Haaren verdeckt. Ganz plötzlich hob sie den Kopf.
»Martha Klein arbeitet seit etwa zwei Monaten nicht mehr für den Polizeiärztlichen Dienst.«
Sie schaute mich auffordernd an.
»Überlegen Sie mal.«
»Hm«, grunzte ich.
»Wollten Sie mit diesem Laut etwas ausdrücken?«
Ihre Augen verwirrten mich. Sie schienen mir zuzuwinken. » Hallo « , winkten sie. »Häng nicht so verkniffen rum. Du kommst garantiert heil an und auch wieder zurück.«
Kein Röntgenblick. Nur Einladung. Du hast wirklich die Hosen voll, dachte ich. Angsthase. Ich lehnte Einladungen grundsätzlich ab. Das wäre ja eine Festlegung auf Kommendes gewesen. Eine Einschränkung meiner Handlungsfreiheit. Obwohl ich
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