Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser
ich gerade? In welcher Röhre die anderen? In welche nächste würde ich umsteigen? Wer würde, völlig unerwartet, mit welchen Absichten zusteigen? Ich hatte das Gefühl, zu zerbröseln. Geheimdienste waren aus guten Gründen geheim. Aber was gingen mich ihre Geheimnisse an? Ich war jetzt ein Teil davon. Das ging mich an.
Ich fühlte mich vom Röntgenblick meiner Mutter durchbohrt. So ein Irrwitz, dachte ich. Was hatte denn das eine mit dem anderen zu tun?
In einem feudalen Hotel in Mexico-Stadt kämpfte ich eine ganze Nacht gegen Kakerlaken. Sie waren überall. Unter der Tapete, in allen Ritzen und Fugen. Es war eine Suite mit herrlichem Ausblick auf die Kathedrale. Eine gediegene, noble, bürgerliche Herberge, die Zuverlässigkeit atmete. Dieses Hotel war ein Versprechen auf die Zukunft jedes anständigen Menschen, der geordnet seinen bürgerlichen Geschäften nachging. Der Service war hervorragend. Die Umgangsformen kultiviert. Im › Hyatt ‹ verkehrten die Stützen der Gesellschaft. Es war beherrscht von Kakerlaken.
Sie kamen im Dunkeln. Man hörte ein leises Kratzen. Wie geflüstert. Von allen Seiten flüsterte dieses Kratzen. Unter der Tapete saß es. Blitzartig, mit vibrierenden Fühlern, entflohen sie dem Licht, wenn ich es einschaltete. Lichtscheues Gesindel. Es wimmelte. Heerscharen von Kakerlaken. Ich riss die Tapete ab, bis sie in Fetzen von den Wänden hing. Mit Handtüchern drosch ich auf die Kakerlaken ein, die panikartig eine Ritze zum Verkriechen suchten. Es war ein wüstes Getümmel, kreuz und quer. Ich raste. Berge getöteter Kakerlaken lagen auf dem Boden. Es nahm kein Ende. Bald sah die Suite aus wie ein Schlachtfeld. Ich war erschöpft, umgeben von der klebrig gelben Masse erschlagener Kakerlaken. Die lebenden drängten nach. Sie waren unbesiegbar in der Überzahl.
Damals floh ich. Ich bezahlte keine Rechnung. Nichts. Über die toten Kakerlaken waren längst die lebenden gekrochen, als ich meinen Koffer gepackt hatte und aus dem Zimmer gestürmt war.
Hier konnte ich nicht einfach fliehen. Offensichtlich gab es eine alte Rechnung, die ich noch begleichen musste. Einen Totenschein, den der Arzt dem Mörder erst jetzt ausstellte und in die Hand drückte. Ich hatte Paranoia. Fritz, reiß dich zusammen, versuchte ich mich zu beruhigen.
Ich schaute auf zum nächtlichen Himmel, der vor Sternen funkelte. Die Luft war kristallklar. Die Sterne würden immer da oben stehen. In einer Milliarde Jahren noch. Das war tröstlich. Das Leben verging so schnell, dass man es nicht wirklich spürte.
Verglühen in Lichtgeschwindigkeit. Zur steten Erinnerung daran sollte jeder einen Stern in der Hosentasche mit sich tragen.
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Hinter allem steckte eine systematische Strategie, die über einen einzelnen Mord an einer einzelnen Person hinausging. Etwas hatte diese Strategie gestört. Gescheiterte Strategien hinterließen immer ein chaotisches Trümmerfeld. Diese Trümmer wollten sie beseitigen.
Barbara und Corinne hatten auf mich gewartet. Ich berichtete kurz.
Wir versuchten, Schwerpunkte einzugrenzen. Der Priester und die Geschwister waren akut gefährdet. Ich sollte sie entführen. Wir mussten herausfinden, was sie wussten.
Dann Mlasec. Wer war Mlasec, was präzise machte er? Welche Rolle spielte der Schönheitsoperateur? Wir ordneten ihn Mlasec zu. Wir entwarfen bizarre Fantasien. Mlasec als Organlieferant. Junge Frauen aus dem Lager wurden dazu gezwungen . Zwangsverheiratungen. Kein Klischee fehlte. Alle Ämter mussten abgeklappert werden, die damit zu tun haben konnten. Wir mussten die Einwanderungsbehörde überprüfen. Wie viele Flüchtlinge unter welchen Bedingungen gab es im Lager? Was hatte sich an der Abschiebepraxis geändert? Seit der vermutlichen Ankunft von Martha Klein?
Standesämter. Wer alles aus dem Lager hat wen geheiratet? Krankenkassen. Haben die Krankenkassen Operationen des Chefarztes Hippchen bezahlt? Welche Operationen wurden bezahlt?
Ich steckte die beiden Frauen an mit meiner Paranoia. Unsere Nerven waren überspannt. Wir verdächtigten alles und jeden.
Ich wagte es kaum, Barbara anzuschauen. Zwischen uns stand ein Geheimnis. Mir spukte der Satz im Kopf herum. Ich habe schon einmal einen Mord begangen. Hatte sie ihn auch gehört? Oder kam sie erst später dazu? Ich hätte sie einfach fragen können. Rosi hatte es mit Sicherheit gehört. Auch sie könnte ich fragen. Ich wollte niemanden fragen. Was denn fragen? Ob ich ein Mörder war? Ich wusste, dass ich keiner
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