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Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser

Titel: Fritz Neuhaus 03 - Nichtwisser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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Menschen, mit denen ich bisher zu tun hatte, waren immer Gegner. Klar erkennbare Kreaturen, denen ich unbedingt den Garaus machen wollte. Der korrupte Mensch war mein Lebenselixier. Das war die Prämisse, unter der ich lebte. Ich erwartete immer das Gemeine.
    Anständige Menschen langweilten mich. Ich brauchte das Flirrende, Doppeldeutige, die Gemeinheit hinter der freundlichen Geste, die Androhung endgültiger Vernichtung hinter der Maske optimistischer Lebensbejahung. Das weckte meinen Kampfesmut.
    Etwas völlig Unbekanntes war in mein Leben getreten. Als Gegner schwer fassbar. Ein › Es ‹ , von dem ich nicht wusste, was es sein konnte. Vielleicht war › Es ‹ die Begegnung mit meiner Vergangenheit, die mich aufschreckte. Der erwachsene Mann und der Jüngling, der Schrankbewohner, trafen aufeinander. Vergangenheit und Gegenwart. Die Vorstellung zu altern war mir fremd. Ich fühlte mich zeitlos. Für mich verging keine Zeit. Ich hatte sie eingefroren. Sie hielt ewig.
    Der Schrank hatte mich geschützt. In ihm war die Zeit stehen geblieben. Der Blick durch das kreisrunde Schlüsselloch war die Nabelschnur zur Welt. Ich war dem Schrank nie entstiegen. Was ist, wenn du da immer noch hockst, beim Einatmen von zerschmelzenden Mottenkugeln? Ich musste in ihn zurück und den aufgespulten Faden der Zeit abspulen. Von damals bis jetzt. Fritz, du spinnst, dachte ich.
    Ausgerechnet hier in der tiefsten Provinz, in Schlabbach, bekam mein Zeitpanzer Risse. Durch die Risse drang Zeit ein. Etwas bewegte sich direkt auf mich zu. Keine klar erkennbare Kreatur. Eine anonyme Kraft, die uns notfalls alle auslöschte. Wie Nemec. Oder Nardini. Oder bald den Priester oder die Geschwister. Diese Kraft wusste etwas über mich, was mich in Zeitdruck brachte. Als bräche die Zeit der letzten 30 Jahre in einer einzigen, großen Welle über mich herein, um mich zu ersäufen.
    Ich dachte an meine Weggefährten. Ich war froh, dass sie da waren. Ich wollte mir Mühe geben, sie kennenzulernen. Alle einzeln. Sie waren keine Gegner. Das war für mich eine ganz neue Entdeckung. Was waren sie? Wer waren sie? Fragen, die ich mir vorher nie gestellt hatte. Schrankbewohner fragten nicht.
    »Du stellst nie Fragen«, sagte die Buschtrommlerin im ›Lentz‹, »vor lauter Angst, entdeckt zu werden. Was muss dir zustoßen, bis du mal das Maul aufmachst?«
    Ich lag bei geschlossenen Augen flach auf meinem Rücken. Auf den Innenseiten meiner Augenlider lief alles von mir Gedachte als Film ab. Gedanken verwandelten sich in Bilder auf dem Lidinneren. So war ich immer beschäftigt. Diese Bilder waren in meinem Hirn gespeichert wie auf Videokassetten. Das wusste ich. Nur wusste ich nicht, in welcher Kammer meines Hirns sich die Videos befanden. Ich hatte mich nie sonderlich bemüht, diese Kammer zu finden. Jetzt riss mir eine unerwartet heftig aufbrandende Neugierde danach fast die Hirnschale weg. Ich wollte diese Videos sehen. Alle auf einen Schlag. Und wenn es mich das Leben kostete. Wer waren die Hauptakteure in diesen Filmen?
    Fritz, dachte ich, jetzt hat es dich aber voll erwischt!
    Ich richtete mich auf und tastete mit dem Fuß nach dem Boden. Ich spürte ihn. Es war, als spürte ich ihn zum ersten Mal. Es brach auch nichts ein unter meinen Fußsohlen, als ich endlich stand. Um Gottes willen, dachte ich, wenn mich jetzt jemand beobachtete bei meinem kindischen Versuch! Ich kicherte und konnte nur mühsam eine Lachsalve unterdrücken, die bestimmt das ganze Haus geweckt hätte.
    Ich schlief in einem kleinen Praxisraum von Nemec auf einer schmalen Ledercouch, die man ausziehen konnte. Bis auf die Couch, eine Stehlampe und einen Sessel war der Raum leer. Es war der Raum, in dem Nemec seine Patienten zur Therapie empfangen hatte.
    Der Raum lag im Halbdunkeln. Die Vorhänge waren zugezogen. Durch die Ritzen drang das erste Licht der Morgendämmerung.
    »Alter, kann ich dir irgendwie helfen?«
    Wo kam denn diese Stimme her? Wieso saß da jemand im Sessel? Wieso hatte ich ihn nicht bemerkt? Nur undeutlich erkannte ich die Konturen einer Gestalt im Halbdunkeln. Wie lange saß sie schon da? Hatte sie mir die ganze Zeit zugeschaut? Ich war unfähig mich zu rühren. Ich war völlig erstarrt.
    »Wo ist Nemec?«
    Ich hatte die Situation noch nicht im Griff. Wo war meine Hose? Sie lag neben dem Bett. Ich hatte sie mit den Füßen einfach so von den Beinen gestreift und liegen lassen. Ich war zu faul gewesen, sie aufzuheben und über den Sessel zu hängen. Also, wo

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